Wünschen sich für Frankreich ein Referendum, wie es die Schweiz kennt.bild: watson
«Wir wollen leben, nicht nur überleben»: «gilets jaunes» in Paris sprechen mit watson Klartext.
08.12.2018, 21:1513.12.2018, 13:27
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In Frankreich strömten auch diesen Samstag tausende «gilets jaunes» die Strassen und liessen ihrer Wut auf Präsident Macron freien Lauf. Die Stimmung war aufgeladen, viele wollten nicht mit Journalisten sprechen.
Die Ereignisse im Liveticker
Auf unserem Streifzug durch Paris haben wir Paul, Yves, Claire, Mégane, Yannik, Jessica und Marc kennengelernt. Sie alle erzählen Geschichten von sozialer Ungerechtigkeit, von prekären Lebensumständen. Es sind zum grossen Teil Menschen, die kaum von ihrem Lohn leben können – sogenannte «working poor». Hier ihre Geschichten:
Paul*, 23, Lastwagenfahrer
«Wir Franzosen zahlen sehr viele Steuern, erhalten dafür aber immer weniger Leistungen zurück. Ich halte mich dank Überstunden über Wasser. Aber ist es etwa normal, dass ich regelmässig sechs Tage die Woche arbeiten muss? Ein Einwanderer, der Asyl bei uns beantragt, lebt feudaler als ich. Ob ich Front National wähle? Nein, nicht unbedingt. Aber es gibt Themen, bei denen ihre Position meiner am ehesten entspricht, das stimmt.
Ich protestiere hier auch gegen die französischen Medien, die meiner Meinung nach ständig Propaganda für die Regierung machen. Das sind Politiker und nicht Journalisten. Ich informiere mich deshalb nur auf ‹Russia Today› oder bei unabhängigen Bloggern im Internet. Und nein, es reicht mir nicht, dass die Regierung diese Woche einen Schritt zurückgekrebst ist. Aber ich schreie hier nicht ‹Macron demission› – das Problem ist nicht er persönlich, sondern das System. Die Steuern müssen jetzt gerechter verteilt werden, also in erster Linie den ärmsten Franzosen dienen.»
Yves, 55, SNCF-Mitarbeiter aus Saint-Malo
«Wissen Sie, mir geht es eigentlich gut. Ich arbeite beim Bahnunternehmen SNCF und verdiene korrekt. Aber ich sehe, wie sehr mein Sohn Mühe hat, die Monatsenden zu überstehen. Für ihn bin ich hier. Er ist handwerklich tätig. Als Macron die Erhöhung der Benzinsteuer ankündete, war klar, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Wie sollte er noch zu Kunden gehen, wenn er sich das Auto nicht mehr leisten kann? Bei uns in der Bretagne ist auf die öffentlichen Verkehrsmittel nicht wirklich Verlass und die Anschlüsse sind schlecht.
Dass Macron nun einen Rückzieher macht, nehme ich ihm nicht ab. Bei der nächsten Gelegenheit wird er die Erhöhung doch noch durchziehen. Dabei setzt die Regierung den Rotstift bei den falschen Leuten an. Das Volk sollte wieder das letzte Wort über die Staatsausgaben haben. Und es braucht eine Transparenz der Ausgaben und Löhne auf höchstem Regierungsniveau.»
Claire, Mégane und Jessica – 24, 29 und 32
«Ich bin heute bereits zum zweiten Mal auf der Strasse. Und zwar, weil ich ein Referendum, wie es dies in der Schweiz gibt, auch für mein Land will. Wir Bürger müssen endlich das letzte Wort haben. Ich verdiene in meinem Job circa 1300 Euro im Monat. Das reicht nur knapp aus und dabei bin ich manchmal Tag und Nacht im Einsatz. Das Betreuen von Patienten ist zudem anstrengend und verantwortungsvoll. In einer gerechten Welt sähe das anders aus.»
Claire, Krankenschwester
«Wir erhalten bei meiner Arbeit nicht die nötigen finanziellen Mittel, um die Leute richtig zu betreuen. Dagegen protestiere ich heute. Und die Macrons und Co. sollten ihren Lohn kürzen und mal schauen, wie sie mit dem gleichen Budget wie wir über die Runden kommen. Dann würden sie uns vielleicht eher verstehen. Bisher haben sie uns doch total vergessen.»
Mégane, Sozialarbeiterin
«Ich und meine zwei kleinen Kinder leben mit 600 Euro pro Monat. Stellen Sie sich das vor. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal Fleisch gegessen habe. Wann ich den Kleinen oder mir etwas gegönnt habe. Ab dem 15. des Monats drehe ich jeden Euro dreimal um, bevor ich ihn ausgebe. Am 25. bleiben mir jeweils fünf oder sechs Euro.»
Jessica, Hausfrau
Marc*, 24, Lagerist aus Pau
«Ganz viele Leute in Frankreich leben nicht, sie setzten nur alles daran, um zu überleben. Aber sogar das ist kaum möglich mit 1200 Euro im Monat. Mir bleibt nach all den Abzügen, Versicherungen und Steuern fast nichts. Ein Kino oder einen Restaurantbesuch mit meiner Freundin, das kann ich mir höchstens einmal pro Jahr leisten. Das ist doch kein Leben.
Wissen Sie, die da oben im Élysée sind doch total abgehoben von der Realität. Ihnen ist nicht bewusst, wie schlecht es uns geht. Deshalb bin ich heute hier. Um klarzumachen: Es muss etwas passieren. Mit der derzeitigen Regierung bin ich so unzufrieden, dass ich klipp und klar sage: Sie muss weg. Präsident Macron, Premierminister Philippe. Alle.»
Yannick, 45, Sozialarbeiter aus Zentralfrankreich
«Meine zwei Kinder, meine Frau und ich haben 1500 Euro im Monat um zu leben. Ich mache mir oft Sorgen, dass das Geld nicht reicht, wenn ich Lebensmittel einkaufe. Die Skibrille und Schutzmaske trage ich nicht, weil ich Krawall mache, sondern weil man hier auch so Tränengas ausgesetzt ist und ich das logischerweise vermeiden möchte.»
*Namen geändert.
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quelle: epa/epa / ian langsdon
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