Der Befehl zur Mobilmachung kam gut an bei den russischen Hardlinern, aber nur einen Tag später herrscht in einschlägigen Telegram-Kanälen eine ordentliche Portion Fassungslosigkeit wegen der russischen Führung. Von Sabotage ist die Rede, einer unglaublichen Dummheit und sogar Verrat. Was die ultranationalistischen Kriegsblogger so erzürnt: Der Austausch von 55 russischen Kriegsgefangen gegen mehrere Briten und 205 Ukrainer – darunter die Kommandeure der als Helden verehrten Verteidiger des Asow-Stahlwerks in Mariupol.
Das ukrainische Präsidialamt machte den Austausch in der Nacht zu Donnerstag öffentlich und verbreitete Fotos, die Innenminister Monastyrsky mit dem Asow-Kommandeur Denys Prokopenko zeigten. Dieser war Mitte Mai mit Hunderten anderen ukrainischen Soldaten in Gefangenschaft geraten, nachdem die russische Armee das Stahlwerk nach wochenlangen Kämpfen erobert hatte.
Mindestens 53 Verteidiger des Stahlwerks starben Ende Juli bei einem Brand im russischen Foltergefängnis Oleniwka, den die Besatzer mutmasslich selbst verursacht hatten. Die Kommandeure der Asow-Verteidiger wollte der Kreml eigentlich in Schauprozessen im zerstörten Theater von Mariupol aburteilen, doch daraus wird jetzt wohl nichts – zum Unmut der russischen Nationalisten.
«Die Freilassung der britischen Söldner und der verbliebenen Asow-Kämpfer ist schlimmer als ein Verbrechen und mehr als nur ein Fehler, das ist Verrat», kommentiert beispielsweise der Kriegsblogger Igor Girkin, der 2014 selbst auf prorussischer Seite im Donbass gegen die Ukraine kämpfte. «Es ist eine unglaubliche Dummheit oder gar Sabotage und offenbar war es nicht mal möglich, den Austausch ein paar Tage vor der Mobilmachung zu verkünden. Für mich sieht das so aus, als würde jetzt eben jenen, die aufstehen und für ihr Land kämpfen wollen, auf den Kopf geschissen wird».
Girkin gilt als einer der Meinungsführer unter den russischen Nationalisten, seinen Telegram-Kanal haben mehr als 610'000 Nutzer abonniert (Stand: 22. September). In den vergangenen Monaten hat Girkin die russische Militärführung immer wieder als unfähig kritisiert und nannte dabei auch explizit Verteidigungsminister Schoigu.
Kürzlich soll Girkin versucht haben, mit einem gefälschten Pass ins Kriegsgebiet in der Ukraine zu reisen, soll aber von den russischen Besatzern auf der Halbinsel Krim abgefangen worden sein. Doch der Unmut über die Freilassung der Asow-Kämpfer kommt auch in anderen Telegram-Kanälen zum Ausdruck.
«Ein Gefangenenaustausch ist kein Austausch. Es ist eine Kapitulation», heisst es beispielsweise in dem Kanal, der sich «Russische imperiale Bewegung» nennt. «Und sie steht in einer Reihe mit der Kapitulation in der Region Charkiw. Auf der russischen Seite wurde mit Blut unterschrieben, auf der anderen Seite mit Eselsurin.» Besonderen Anstoss nehmen die Nationalisten an der Person Viktor Medwedtschuk, der jetzt gegen die Asow-Kämpfer ausgetauscht wurde.
Der ukrainische Unternehmer ist privat mit Putin verbandelt und galt als dessen wichtigster Mann in der Ukraine. Wäre der Krieg aus Sicht des Kreml nach Plan gelaufen, wäre Medwedtschuk wohl Teil einer ukrainischen Marionettenregierung geworden. Der ukrainische Geheimdienst hatte Medwedtschuk im April aber festgenommen und dieses Foto veröffentlicht:
Jahrzehntelang hat Putins Freund und Oligarch Wiktor Medwedtschuk an der Kapitulation der Ukraine gegenüber dem Kreml gearbeitet. Nun freut sich die ganze Ukraine über diese Bilder. Und ich kann wirklich jeden verstehen, der das tut. pic.twitter.com/0GozUisad1— Denis Trubetskoy (@denistrubetskoy) April 12, 2022
Alles Wichtige zur Gefangennahme von Medwedtschuk im April:
«Aus irgendeinem Grund fand der Austausch nach dem Schema statt »200 ukrainische Kriegsgefangene für Viktor Medwedtschuk« und »fünf gefangene Asow-Kommandeure für 55 unserer Kriegsgefangene«, lästert beispielsweise der Kanal »Grey Zone«, der mit 311'000 Abonnenten über eine grosse Reichweite verfügt. Sprachlich ist die Kritik im Grey Zone-Kanal zurückhaltender formuliert als jene von Igor Girkin, doch der Unmut der Verfasser kommt auch in verschiedenen weitergeleiten Nachrichten und Fotos zum Ausdruck.
Verachtung für Viktor Medwedtschuk spricht auch aus einer Fotomontage, die Wladlen Tatarski auf Telegram postete, wo ihm fast 458'000 Abonnenten folgen:
Im offenbar ironischen Begleittext zu der Fotomontage heisst es: «Ok, das Positive daran ist, dass heute ein echtes Ass, unser Kampfpilot Wolodja Medwedtschuk, der 87 Su-25 der ukrainischen Luftwaffe abgeschossen hat, im Austausch nach Hause zurückgekehrt ist. Willkommen zu Hause!»
Beobachter der nationalistischen Szene in russischen Telegramkanälen äusserten sich erstaunt über die unverhohlene Kritik. «Die Freilassung der Asow-Kommandeure ist für die Nationalisten ein noch grösserer Schlag als der Rückzug aus der Region Charkiw», schreibt der Chefredakteur des unabhängigen belarussischen Portals Nexta, Tadeusz Giczan, auf Twitter.
«Der Rückzug liess sich als militärische Notwendigkeit darstellen, aber die Freilassung der Asow-Kämpfer zerstört die ganze Erzählung von der 'Denazifizierung' der Ukraine», so Giczan. «Die russische Propaganda hat das Asow-Regiment die letzten Jahre dämonisiert und zu einer Art Waffen-SS erklärt, und jetzt, kurz vor den Schauprozessen in Mariupol, werden sie ausgetauscht gegen den Vater von Putins Patentochter.»
Welchen Einfluss die nationalistischen Hardliner auf die Politik des Kreml haben, ist unklar. Sie gelten aber als grösste potenzielle Oppositionsgruppe und können in ihren öffentlichen Äusserungen weitergehen als beispielsweise Gegner des Krieges. Die Telegramkanäle der Kriegsblogger waren in den vergangene Monaten der einzige öffentliche Raum in Russland, der nicht weitgehend unter der Kontrolle des Kreml steht. (t-online, mk)
Und was die innerrussische Diskussion anbelangt, diese sollte man am Besten ignorieren. Soviel Quatsch geht ja unter keine Kuhhaut.
Zum Glück gibt es in Russland auch noch Menschen, die vernünftig denken.
Ich verstehe, dass es Länder gibt, die nicht einfach alle aus Russland einreisen lassen wollen, denn die Gefahr, dass es vereinzelt auch solche nationalistische Hardliner darunter hat, welche demokratische Gesellschaften unterwandern wollen, um ihre Interessen und ihr Gedankengut zu verbreiten, ist nicht zu unterschätzen. – Dies gehört zum hybriden Krieg, den Russland gegen gegen die freiheitlichen Länder führt.