Eine kurze Rückblende: Mitte Februar 2022 brodelt es in Osteuropa bereits gewaltig. Russland hatte seine seit 2021 stattfindenden Truppenaufmärsche an der Ostgrenze der Ukraine deutlich intensiviert. Die Ukrainer wiederum wenden sich mit einer neuen Vehemenz an ihre westlichen Partner und fordern Unterstützung in Form von ausgebauten Waffenlieferungen.
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Noch während sich der Westen fragte, ob Wladimir Putin tatsächlich die Unverfrorenheit besässe, in das Nachbarland einzumarschieren und einen Krieg zu beginnen, machte dieser Ernst: Am 24. Februar drangen russische Truppenverbände von verschiedenen Seiten in das Nachbarland ein und rollten auf Grossstädte wie Kiew oder Charkiw zu.
So hat sich der Krieg seit dem Tag des russischen Einmarschs entwickelt:
Ein erklärtes Kriegsziel von Wladimir Putin damals im Frühjahr: den NATO-Beitritt der Ukraine und damit eine weitere Annäherung des Landes an den Westen zu unterbinden. Die «schleichende Ausweitung» der NATO in Osteuropa stelle eine «existenzielle Bedrohung» für Russland dar, auf welche man aus Selbstschutz reagieren müsse, so eine der Rechtfertigungen Putins für den Angriffskrieg.
Nun zeigt ein Bericht der Nachrichtenagentur Reuters, dass bereits zum Zeitpunkt des Einmarschs zwischen den beiden Ländern verhandelt wurde. Und das anscheinend erfolgreich: Die Ukraine sei bereit gewesen, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten. Wladimir Putin hätte eines seiner Kriegsziele also bereits erreicht.
Doch er lehnte ein von seinem Chefunterhändler Dmitri Kosak erreichtes Abkommen mit den Ukrainern ab. Dieses hätte Russland zugesichert, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt. Kosak erklärte gegenüber seinem Präsidenten, dass er eine umfassende Besetzung der Ukraine durch seinen ausgehandelten Deal für unnötig halte. Reuters bezieht sich auf drei der russischen Regierung nahestehende Quellen, die anonym bleiben wollen.
Putin habe die Verhandlungen zwar unterstützt – als der Deal aber auf dem Tisch lag, habe er ihn abgelehnt und deutlich gemacht, dass die Zugeständnisse der Ukrainer zu wenig weit gingen. Stattdessen habe er erklärt, dass er eine Annexion ukrainischer Gebiete erreichen wolle.
Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite bestreiten heute, dass ein solches Abkommen vorlag. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bekundete auf Nachfrage von Reuters: «So etwas ist nie passiert. Es handelt sich um absolut falsche Informationen.»
Und auch auf ukrainischer Seite will man heute nicht mehr wahrhaben, dass einst eine Vereinbarung vorlag, die den mittlerweile seit bald sieben Monaten andauernden Krieg vielleicht massiv hätte verkürzen oder gar verhindern können. So sagt Mychajlo Podoljak, Berater von Wolodymyr Selenskyj, gegenüber Reuters: «Heute ist uns klar, dass die russische Seite nie an einer friedlichen Lösung interessiert war.» Moskau habe die Verhandlungen nur als Vorwand geführt, um die Invasion vorzubereiten.
Laut zwei der drei Quellen hat Unterhändler Kosak am Tag des Einmarschs, dem 24. Februar, einen Durchbruch erreicht und die von den Ukrainern geforderten Zugeständnisse als erfüllt angesehen. Die dritte Quelle erklärte, dass Kosak Putin den Deal bereits vor dem Einmarsch vorgelegt habe – dieser aber bereits da abgelehnt habe. Endgültig gescheitert seien die Verhandlungen dann Anfang März, als den Beteiligten klar geworden sei, dass Putin die Invasion ohnehin fortsetzen wolle.
Offen ist auf der anderen Seite aber ohnehin auch, ob die ukrainische Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj das Abkommen tatsächlich unterschrieben hätte.
Was indes Chefunterhändler Kosak zu den Darstellungen der Quellen sagt, ist nicht bekannt: Anfragen von Reuters bezüglich einer Stellungnahme blieben unbeantwortet. Kosak, geboren in der Ukraine, gilt als getreuer Gefolgsmann Wladimir Putins, seit er in den 90er-Jahren mit ihm in St.Petersburg zusammengearbeitet hatte. Er ist nach wie vor Vize-Ministerpräsident des Kremls. Laut einer Reuters-Quelle wurde ihm aber das Ukraine-Dossier entzogen. Er sei derzeit «nirgends zu sehen in der Ostukraine», heisst es. (con)