Anfang Dezember stand der Papst in einer Kirche auf Zypern. Wie ein ARD-Korrespondent damals berichtete, hatte Franziskus seine vorbereitete Rede eigentlich schon beendet, da schaute er noch mal auf zu den vielen Hundert Migranten in den Sitzbänken vor ihm und sprach einfach frei weiter: «Das Schlimmste ist, dass wir uns daran gewöhnen. ‹Ah›, wird gesagt, ‹heute ist ein Boot gesunken, viele Vermisste.› Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit! Es ist eine sehr schlimme Krankheit!»
Man muss die Krankheitsrhetorik des Papstes nicht teilen, man muss noch nicht mal gläubiger Katholik sein – aber wann, wenn nicht an Weihnachten, ist es Zeit für die Frage, wie Europa 2021 an seinen Grenzen mit all jenen umgeht, die versuchen, in die EU zu kommen, um hier Asyl zu beantragen? Die Schutz suchen oder ein besseres Leben.
Am späten Heiligabend, ungefähr zur gleichen Zeit also, als der Papst im Petersdom die Christmette feierte, sank wieder ein Boot. Rund fünf Kilometer vor der griechischen Insel Paros kenterte ein Segelschiff mit 80 Personen an Bord. Fünf Boote der Küstenwache, neun private Boote, ein Helikopter und ein Militärflugzeug suchten die Nacht über das Meer ab, so berichtet es die griechische Zeitung Ekathimerini. 63 Menschen konnten gerettet werden. Mindestens 16 ertranken. Es ist das dritte Unglück dieser Art in drei Tagen, insgesamt starben mindestens 30 Menschen dabei.
Und es ist nach Einschätzung der griechischen Behörden der Beleg, dass die Schmuggler ihre Strategie geändert haben. Sie steuern von der Türkei aus nicht mehr mit kleinen, motorisierten Booten die nahen griechischen Inseln wie Lesbos oder Samos an, denn hier patrouilliert die griechische Küstenwache besonders intensiv – und drängt sie immer wieder in türkische Gewässer zurück, was zwar völkerrechtlich verboten, aber trotzdem ständige Praxis ist.
Jetzt aber laden die Schmuggler die Migrantinnen und Migranten offenbar auch auf Segelboote und versuchen weiter südlich, zwischen den griechischen Inseln der Zentral-Ägäis hindurch, bis nach Italien zu kommen.
Diese Entwicklung belegt: Auch der intensivste Grenzschutz hält zumindest einen Teil der Menschen nicht ab, sich weiter auf den Weg nach Europa zu machen. Die Routen werden dabei nur immer gefährlicher. Es sind übrigens nicht nur junge Männer in diesen Segelbooten. Aus einem der gekenterten Boote rettete die Küstenwache allein 27 Minderjährige.
Mehr als 2500 Menschen sind von Januar bis November 2021 laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Mittelmeer gestorben beim Versuch, in die EU zu gelangen. Das ist allerdings nur eine Schätzung. Denn seitdem die EU Anfang 2020 ihre Seenotrettungsmission Sophia eingestellt hat, befürchten Menschenrechtsorganisationen, dass viele Boote einfach sinken, ohne dass es irgendwer mitbekommt – und diese Toten deshalb in keiner Statistik auftauchen.
2021 war auch das Jahr, in dem das Zurückdrängen von Migranten, die sogenannten Push-backs, an anderen europäischen Aussengrenzen ebenso üblich wurde. Als der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko im Herbst Tausende Menschen an die polnische Grenze transportierte und in die EU zu treiben versuchte, trieben die polnischen Behörden sie einfach zurück.
So waren diese Menschen über Wochen im Niemandsland zwischen den beiden Ländern eingeklemmt, mindestens 17 von ihnen starben. Die Deutsche Hilfsorganisation für Geflüchtete, Pro Asyl, empört sich: «Dass Menschen an Europas Grenze als direkte Konsequenz von illegalen Push-backs sterben und es keinen öffentlichen Aufschrei, ja sogar politische Unterstützung dafür gibt, hätte man sich noch vor wenigen Jahren kaum ausmalen können.» Da ist sie wieder, die vom Papst konstatierte «Krankheit der Gewöhnung».
Im Bemühen um Solidarität mit Polen und im Willen, sich von Lukaschenko nicht erpressen zu lassen, hat die EU zwar nicht klaglos, aber letztlich doch in Kauf genommen, dass ein Mitgliedsstaat Völkerrecht bricht und Menschen an der Grenze gewaltsam zurückdrängt, ohne ihre Asylgründe anzuhören.
Und dass Hilfsorganisationen und Journalisten wegen eines verhängten Ausnahmezustands bis heute keinen Zugang zur Grenze haben, wofür das polnische Parlament sogar die Gesetze änderte. Selbst Vertreter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen liess Polen Anfang Dezember nicht in jenes Gebiet, in dem bis heute Hunderte Menschen ausharren in der Hoffnung, es doch noch nach Europa zu schaffen.
An der belarussisch-polnischen Grenze entwickelte sich die gleiche Dynamik wie zuvor schon an der griechischen Grenze: Die EU reagiert auf eine akute Krise, indem sie die Regeln verschärft. So, wie sie 2016 die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln militarisierte und Hilfsorganisationen das Helfen verbot, so weicht sie jetzt für Polen die Asylregeln auf.
Die Behörden sollen vier Wochen statt zehn Tage Zeit haben, Asylanträge anzunehmen, und leichter abschieben dürfen. Polen selbst hatte schon zuvor per Gesetz die eigenen Push-backs für legal erklärt, was an ihrer Völkerrechtswidrigkeit nichts ändert. Die EU nimmt das nicht nur hin, sondern bestärkt Polen indirekt in seinem Kurs.
So, wie es im März 2020 kein Zufall war, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem Griechenland-Besuch das Land als «europäischen Schild» rühmte, sondern die rhetorische Begleitung einer militarisierten Flüchtlingspolitik, so muss man auch jetzt von Absicht ausgehen, wenn der französische Präsident Emmanuel Macron den Schulterschluss mit dem ungarischen Präsidenten und Antimigrationslautsprecher Viktor Orbán übt.
Ein EU-Gericht hatte gerade erst geurteilt, dass die ungarische Migrationspolitik gegen europäisches Recht verstösst, weswegen sich die EU-Grenzschutzagentur Frontex ganz aus dem Land zurückziehen musste – aber Macron sagte dazu bei einem Besuch im Dezember bei Orbán nichts. Sondern forderte stattdessen, «an eine Neuorganisation zu denken, um den Migrationsbewegungen vorzubeugen, unsere Grenzen besser zu schützen und erfolgreich die Mittel und Wege zu finden für eine wirksamere Kooperation der Europäer zu diesem Thema».
Und die deutsche Bundesregierung? Die neue Aussenministerin Annalena Baerbock versicherte bei ihrem ersten Polen-Besuch vor zwei Wochen zuerst die deutsche Solidarität, bevor sie erklärte: «Wir müssen aber auch, das möchte ich deutlich sagen, sicherstellen, dass angesichts der eisigen Temperaturen im Grenzgebiet humanitäre Hilfe zur Verfügung steht, und zwar auf beiden Seiten der Grenze.»
Was passiert, wenn Polen dieser Bitte einfach weiterhin nicht oder unzureichend nachkommt, ist unklar. So wie überhaupt noch unklar ist, ob und wie die neue deutsche Regierung die europäische Migrationspolitik in ihrem Sinne lenken kann. «Wir wollen bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren», heisst es im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien. Also das genaue Gegenteil der Verschlechterungen, die die EU-Kommission gerade zum Gefallen Polens und Ungarns vorantreibt.
In der neben Belarus anderen grossen migrationspolitischen Frage dieses Jahres, dem Umgang mit all jenen, die vor den Taliban aus Afghanistan fliehen wollen, hat Baerbock nun immerhin einen Aktionsplan vorgestellt. Er soll dabei helfen, die 15'000 Schutzbedürftigen, deren Aufnahme Deutschland schon zugesagt hat, auch wirklich sicher aus dem Land zu bekommen.
An der neuen EU-Aussengrenze zwischen Frankreich und Grossbritannien verschlimmert sich die Lage unterdessen eher. Allein von Januar bis in den November haben über 30'000 Menschen versucht, den Ärmelkanal zu überqueren. Als am 24. November mindestens 27 Personen bei einem Bootsunglück im Ärmelkanal starben, stritten sich die Regierungen vor allem darüber, wer beim Grenzschutz versagt habe.
Ist die Gewöhnung an eine immer härtere Migrationspolitik und an das Sterben an den EU-Aussengrenzen also unaufhaltsam? Ist die vom Papst diagnostizierte Krankheit unheilbar?
Der britische Guardian hat vor Weihnachten Polinnen und Polen besucht, die an der Grenze heimlich Migranten bei sich aufnehmen und vor der Polizei und damit vor der schnellen Abschiebung nach Belarus verstecken. Eine von ihnen, Ewa, fühlt sich an die Nazizeit erinnert: «Meine Grossmutter hat damals auch jüdische Kinder in ihrem Haus versteckt. (…) Es fühlt sich für mich an, als würde ich ihre Arbeit jetzt fortsetzen.»
Sind solche Aktionen der Beweis, dass es noch Nächstenliebe für Migranten an Europas Grenzen gibt? Oder erledigen Menschen wie Ewa letztlich das Geschäft der Schmuggler, indem sie Migranten illegal ins Land helfen, wie es die polnische Regierung sieht? Auch an der Deutung solcher Geschichten zeigt sich die Polarisierung der europäischen Migrationspolitik zum Jahresende 2021.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.