Es ist schon einige Jahre her, da zitierte der AfD-Abgeordnete Andreas Mrosek öffentlich aus der Kriminalstatistik. Er klagte über Hunderttausende als Straftäter verdächtigte Migranten und erhob dann die Forderung, es sei «allerhöchste Zeit, straffällige ausländische Täter sofort abzuschieben». Und erst vor einigen Tagen feierte sich die AfD-Führung auf allen Kanälen dafür, dass man im Bundestag die Impfpflicht verhindert habe. Sämtliche 78 anwesenden AfD-Abgeordneten hatten mit Nein gestimmt. Beides hat auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, aber beides sind Belege dafür, dass es die AfD mit der Sprache wie auch mit der Wahrheit nicht so genau nimmt: Tatverdächtige sind natürlich nicht gleich Täter. Und wer nachrechnet, sieht: Die Impfpflicht wäre auch ohne die AfD-Stimmen knapp durchgefallen.
Mit dem Zurechtbiegen von Fakten, um dies politisch für sich zu nutzen, waren AfD-Politiker in neun Jahren Parteigeschichte schon oft erfolgreich. Als das AfD-Kernthema Migration noch zog, war in der AfD alles sagbar, Teile der Partei pflegen bis heute offenen Rassismus. In der Corona-Krise hingegen fand die Partei zu keiner einheitlichen Linie: Der eine Teil plädierte für das Impfen, der andere dagegen. Der Vorteil war: AfD-Vertreter konnten behaupten, was sie für passend hielten, zu komplex und zu interpretierbar war die Realität und zu divers die wissenschaftliche Erkenntnislage.
Die durch Putins Überfall auf die Ukraine ausgelöste Zeitenwende stellt die AfD da schon vor grössere Herausforderungen. Das bisher praktizierte «anything goes» funktioniert hier nicht mehr. Denn das Konzept des Lavierens und der behaupteten Wahrheiten fällt jetzt auch aus Sicht der eigenen Parteimitglieder auf die AfD selbst zurück: In diversen Landesverbänden sind Mitglieder aus Protest gegen krude Reden von AfD-Abgeordneten zum Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgetreten, allein in NRW waren es in den ersten Kriegswochen 91, ein Teil davon mit Verweis auf Äusserungen etwa des Bundestagsabgeordneten Steffen Kotré, der im Plenarsaal die russische Propaganda wiederholte, es gebe Biowaffenlabore in der Ukraine.
Nach Informationen von dieser Zeitung gab es auch in Kreisverbänden in Baden-Württemberg vermehrt Austritte. In Brandenburg ging sogar eine ganze Kreistagsfraktion, weil in einer Sondersitzung des Bundestages kurz nach dem Überfall ein Teil der AfD-Fraktion sitzen geblieben war, als das Plenum dem anwesenden ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk stehend applaudierte. Parteiintern mitverantwortlich dafür seien «Deppen, die sich nicht im Zaum haben, die Unsinn erzählen», kommentierte der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Jürgen Braun in einem rechtspopulistischen Videoblog.
Aller vorherigen Russlandnähe zum Trotz: In der Ukraine-Frage können viele AfD-Mitglieder die Fakten eben dann doch nicht ignorieren. Russlands Militär hat ein friedliches Land überfallen, es gibt Bilder und Berichte unabhängiger Medien, die das Ausmass der Brutalität zeigen – wie in Butscha, wo russische Kämpfer Zivilisten grausam ermordet haben.
Führende AfD-Politiker und -Gremien versuchen trotzdem noch immer, die russische Verantwortung zu relativieren: Erst mussten die Bomben auf die Ukraine fallen, bevor sich die Bundesspitze überhaupt zu einer Verurteilung Russlands durchrang. In einer Erklärung betrauerte die Bundestagsfraktion anschliessend explizit «zivile Opfer beider Seiten» – als hätte die ukrainische Armee auf Russland gefeuert.
Putinfreundliche Impulse kommen auch aus Bayern und anderen westdeutschen Landesverbänden. Dafür, dass sie so durchdringen, sind aber allem voran ostdeutsche Führungskräfte verantwortlich – insbesondere Fraktions- und Parteichef Tino Chrupalla, der am Bundestagsrednerpult sofort vor Wettrüsten und Kaltem Krieg warnte, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts der russischen Aggression eine Zeitenwende ausgerufen und der Bundeswehr mehr Geld versprochen hatte. Oder der brandenburgische Abgeordnete Kotré mit seiner Rede von den Biowaffenlaboren in der Ukraine.
Die beiden, aber auch viele andere – viele von ihnen in der DDR geboren und aufgewachsen – fremdeln seit jeher mit der Westbindung der Bundesrepublik. Sie sehen die Nato als Kriegstreiber auf dem Balkan und sympathisieren mit Russland. Deutlich zeigte das die Audienz Chrupallas Ende 2020 beim russischen Aussenminister Sergej Lawrow. Zugezogene ostdeutsche AfD-Politiker wie Björn Höcke oder das Brandenburger AfD-Fraktionsmitglied Andreas Kalbitz sichern sich so die Zuneigung ostdeutscher Wählender. Diese Attitüde stösst allerdings unter westlichen Parteikollegen auf wenig Begeisterung. Markus Dossenbach, AfD-Mitglied in Bayern und einst Mitgründer der parteiinternen Alternativen Mitte, spricht aus, was viele denken: «Es gibt da bei einigen im Osten einen Hang zu dieser präsidialen Diktatur Putins, sie wünschen sich einen starken Führer, auf den ich gern verzichten kann.» Gerade im Hinblick auf die im Mai anstehenden Landtagswahlen in NRW und Schleswig-Holstein macht sich Angst vor einem Stimmenverlust breit: «Es ist strategische Dummheit, sich derart pro Putin zu positionieren», sagt Dossenbach. «Mit Putin-Verstehern an führenden Positionen in der Partei werden wir bei den anstehenden Landtagswahlen keinen Stimmenzuwachs erzielen», prognostiziert auch Bundesvorstandsmitglied Alexander Wolf.
Die – westdeutsch dominierte – Führung der Bundestagsfraktion hat also verstanden, wie schädlich sich die Beliebigkeit der Meinungen auswirkt, und nun durchgedrückt, was in der vergangenen Wahlperiode noch an den Abgeordneten gescheitert war: Sie setzte einen Strafkatalog auf, ein Novum im Bundestag: «Schädigung der Fraktion» durch «vorsätzliche oder grob fahrlässige» Verstösse «gegen fraktionsinterne Normen oder Vereinbarungen» werden geahndet mit bis zu 5'000 Euro Geldstrafe, Amtsenthebung oder Fraktionsrauswurf. Der ZEIT ONLINE vorliegende Katalog betont zwar die Freiheit des Mandats, schränkt es zugleich deutlich ein. Künftig ist es strafbar, wenn Abgeordnete am Rednerpult, auf Facebook, Twitter oder Telegram Dinge behaupten oder vertreten, die nicht stimmen oder der vereinbarten politischen Linie der Fraktion widersprechen. Dass kommunikativ nicht mehr alles möglich ist, zeigt sich auch an anderer Stelle: Reden zu brisanten Themen sollen die Abgeordneten künftig mit den politischen Arbeitsgruppen abstimmen. Das ist eine Lehre unter anderem aus einem Auftritt der Gesundheitspolitikerin Christina Baum. Sie hatte im Dezember von «Vergewaltigung von Teilen des Volkes durch den Impfzwang» gesprochen und damit auch in der Fraktionsführung einiges Kopfschütteln ausgelöst.
Und der Strafkatalog wurde bereits wirksam: Der Abgeordnete Kotré erhielt eine Rüge wegen seiner Biowaffenbehauptung – auf Antrag seines Fraktionskollegen Norbert Kleinwächter. Der wurde seinerseits allerdings ebenfalls gerügt, weil er Kotrés Rede als «widerliche Putin-Propaganda» kritisiert hatte – und dies nicht etwa intern, sondern öffentlich auf Twitter. Kotré beeindruckte die Rüge jedoch offenbar nicht wirklich: Auf dem neurechten Portal PI-news relativierte er Tage später erneut ungebremst die Verantwortung Putins. Es sei «natürlich hanebüchen», zu sagen, die Ukraine sei «nur die Guten» und Kriegsverbrechen begingen nur die Russen. «In einem Krieg begehen eigentlich fast immer beide Seiten Kriegsverbrechen.» Als nächsthöhere Strafe nach einer Rüge sieht der Katalog ein Ordnungsgeld vor – bis 5'000 Euro.
Interessanterweise wurde der Strafkatalog bislang nicht auf die Fraktionschefs angewandt. Grund gäbe es: Chrupallas Vorwurf an den Kanzler, er befeuerte mit der militärischen Zeitenwende einen neuerlichen Kalten Krieg befeuern, steht im Widerspruch zu einer Partei, die sonst für die Aufrüstung der Bundeswehr eintritt.
Doch an Chrupalla arbeiteten sich seine Kritiker bisher eher in internen Gesprächen, Foren und Chats ab. Von Überforderung und mangelnder Führung ist dort die Rede. Und seit Co-Parteichef Jörg Meuthen ausgetreten ist und als Zielscheibe von Kritik wegfällt, richtet sich der Unmut vor allem gegen Chrupalla. Und der reagiert dem Vernehmen nach angefasst: In internen Runden reagiere er emotional und falle Kritikern ins Wort, berichten Teilnehmende, was ihm den Namen «Tiny Tino» eingebracht habe. Für Unmut sorgte zuletzt auch ein Interview des Bundesvorsitzenden im Deutschlandfunk, wo er unter anderem jegliche Verantwortung für Äusserungen der parteiinternen Putin-Versteher von sich wies. «Ich habe selten soviel Unsinn gehört», rügte der frühere Berliner AfD-Fraktionschef Georg Pazderski. Intern ist von einem «Grusel-Interview» die Rede.
Immer mehr Funktionäre und Abgeordnete bemängeln aber auch öffentlich, dass Chrupalla mit seinem Auftreten politische Chancen vermasselt: «Bundeskanzler Scholz hatte uns mit seiner Regierungserklärung zum russischen Angriff auf die Ukraine zwei Elfmeter beschert: Mit dem Thema Wehrpflicht, für die die AfD eintritt, und mit der Stärkung der Bundeswehr», sagt der Abgeordnete Braun. Indem Chrupalla Scholz vorwarf, «den Kalten Krieg reaktiviert» zu haben und die Höhe des Sondervermögens für die Aufrüstung kritisierte, habe er den Elfmeter verschenkt. «Der Torwart hatte das Tor sogar schon verlassen, aber der Ball wurde daneben geschossen», klagt Braun.
Es läuft also nicht gut für Chrupalla. Seine Chancen, auf dem für Juni wenige Wochen nach den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW geplanten Parteitag Teil der Parteispitze zu bleiben, hängen auch von den Wahlergebnissen ab. Im Hintergrund werden bereits Alternativen diskutiert. «Für die Wahlen und die weitere Zukunft brauchen wir ein Team Vernunft an der Spitze», fordert Bundesvorstandsmitglied Wolf. «Wer Putins Angriff relativiert, schadet der AfD.» Auch Braun fürchtet um die Wahlergebnisse: «Die Menschen im Westen verstehen nicht, wie man die Verantwortung Russlands relativieren kann.» Chrupalla selbst wiegelt ab und argumentiert, es sei in der AfD ausgeprägt, dass derjenige, der vorne stehe, immer wegmüsse. «Das halte ich aus.» Seine Kritiker aber vermitteln den Eindruck: Selbst wenn Chrupalla seiner Partei noch nicht geschadet haben sollte, von Nutzen ist er ihr derzeit kaum.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.