Was in Kasachstan passiert, ist eine Entwicklung, die Wladimir Putin so gar nicht leiden kann: In einer früheren Sowjetrepublik, die der russische Präsident noch immer zur Einflusssphäre seiner Macht rechnet, wackelt das befreundete Regime.
Statuen des 2019 als Präsident abgetretenen, aber im Schatten der Regierung weiter herrschenden Langzeitautokraten Nursultan Nasarbajew haben die Demonstrierenden bereits einige gekippt. Seine Rolle als «Führer der Nation» steht zur Disposition, nachdem Präsident Kassym-Schomart Tokajew ihm den Vorsitz des Sicherheitsrats abgenommen hat – und damit die Kontrolle über die Sicherheitskräfte.
Протестующие сносят памятник Нурсултану Назарбаеву. pic.twitter.com/uye3h322YB
— РБК (@ru_rbc) January 5, 2022
Den Protestierenden geht es längst nicht mehr nur um den starken Preisanstieg beim Autogas, der zum Jahreswechsel viele so wütend gemacht hatte. Der Aufruhr in den Strassen Kasachstans ist beispiellos, für die alten Eliten geht es mittlerweile um alles. Und Putin nimmt es bekanntermassen persönlich, wenn in Russlands historisch begründetem Orbit die Zeichen auf Revolution stehen.
Gerade jetzt, wo sich der Westen mit Russland in Verhandlungen begibt, in denen Putin mit einem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze genau das erzwingen will: dass man ihm in seiner Nachbarschaft freie Hand lässt, um in Ruhe die Geschichte zu revidieren. In der Ukraine verlief dieses Projekt zuletzt eher schlecht; trotz der Annexion der Krim, trotz der schleichenden Invasion im Donbass und permanenter Destabilisierungsakte sieht sich Putin einem Land gegenüber, das heute mehr denn je nach Europa schaut und nicht nach Moskau.
In Belarus ist es aus Sicht des Kreml noch einmal gut gegangen; Diktator Alexander Lukaschenko hat die friedliche Revolte mit aller Härte erstickt, auch mit russischer Unterstützung. Mit Georgien ist Putin nach dem Kaukasuskrieg von 2008 noch nicht ganz fertig. Zwischen Aserbaidschan und Armenien ist der Konflikt zumindest eingefroren, so wie es Putin gern hat. Das sind längst nicht alle Beispiele.
Was Kasachstan angeht, erscheint es daher nur folgerichtig, dass russische Soldaten als Teil einer sogenannten Friedenstruppe die Lage beruhigen sollen. Wenn es aus dem Aussenministerium in Moskau heisst, man hoffe auf eine «rasche Normalisierung der Lage», dann schwingt auf allen Ebenen mit: Wir wollen, dass es wieder so wird, wie wir uns das vorstellen. Das Regime muss in jedem Fall gerettet werden. Putin will nicht, dass ihm ein strategischer Partner wegbricht, der zwar seine Unabhängigkeit behaupten konnte und auch am Westen interessiert blieb, der aber gleichzeitig immer unter grossem Einfluss Moskaus stand.
Und das ist längst nicht der einzige Grund für Putins Angst vor Veränderung im postsowjetischen Raum. Proteste, die das ganze Land erfassen, eine Regierung zu Rücktritten zwingen und den herrschenden Cliquen womöglich Zugeständnisse abringen? So ein Vorbild will Putin nicht sehen, nicht in Belarus, nicht in Kasachstan; schlimm genug, wenn es in der Ukraine eine erfolgreiche Revolution gegeben hat und das Land dem Zugriff Moskaus soweit es geht entronnen ist.
Putin selbst hat sich längst als unverzichtbarer Herrscher auf Lebenszeit installiert, unterdrückt jeden Widerspruch mit blanker Brutalität, von Repressionen gegen die Opposition im Land bis zu mörderischen Anschlägen in der Ferne. Trotzdem sinkt seine Popularität, was die Lage nicht entspannter macht und seiner typischen Paranoia nur noch mehr Vorschub leistet.
Es wird Putin also recht sein, wenn der kasachische Präsident Tokajew ankündigt, er «beabsichtige, so hart wie möglich zu sein», wenn er um die Hilfe der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) unter Moskauer Führung bittet, also gleichsam russische Truppen anfordert, um der «terroristischen Bedrohung» zu begegnen. Weniger erfreut wird er gewesen sein, dass Tokajew der Bevölkerung Reformen in Aussicht stellt und «bald mit neuen Vorschlägen zur politischen Transformation Kasachstans an die Öffentlichkeit treten» will, wenn auch noch nicht klar ist, wie ernst das gemeint war.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hatte am Mittwoch noch die Parole ausgegeben, es gehe nun vor allem darum, eine «Einmischung von aussen» zu verhindern. Es war aber längst klar, dass es dabei nicht um den Einfluss aus Russland geht. Die Propaganda der staatlichen russischen Kanäle hatte auch sofort den üblichen Schuldigen gefunden: Ausgerechnet vor den so wichtigen Gesprächen Russlands mit den USA und der Nato habe der Westen in Kasachstan eine Revolution angezettelt.
Das Aussenministerium in Moskau hat sich inzwischen angeschlossen: Es handele sich um einen aus dem Ausland gesteuerten Versuch, die Sicherheit und Integrität des Landes gewaltsam zu unterwandern – die Vorwürfe sind so abgegriffen, wie sie falsch sind, in der Ukraine und in Belarus war es nicht anders.
Wie das ausgeht, ist dabei alles andere als klar. Man kann es zynisch beschreiben als Test für Russlands Fähigkeit, in seiner Nachbarschaft für Stabilität zu sorgen, wie es manche eher kremlnahe Beobachter gern vermeintlich neutral formulieren. In jedem Fall aber ist es eine Herausforderung von Putins Macht, wenn in Kasachstan die Bevölkerung für einen Regimewechsel auf die Barrikaden geht. Und die Erfahrung lehrt, dass er darauf nur eine Antwort kennt: Gewalt. Ob er so auf lange Sicht verhindern kann, dass in souveränen Staaten die Zukunft selbst bestimmt wird, ist fraglich. Und es muss auch nicht so kommen, wenn die Kosten dafür zu hoch werden. Bei den Gesprächen in der kommenden Woche wird es jedenfalls nicht allein um die Ukraine-Krise gehen können. Die Gefahr, die Putin für Frieden und Freiheit bedeutet, ist weit grösser.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.