Manchmal sind es die kleinen, mühsamen Gesten und Gespräche, die in der Summe den grössten Fortschritt bringen. Vor dem am Mittwoch beginnenden Nato-Gipfel in Madrid wurden davon nicht wenige unternommen. Zunächst vermeldete das Weisse Haus ein Telefonat zwischen US-Präsident Joe Biden und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dann legte Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan die Ankündigung nach, dass die beiden sich in Madrid zu einem bilateralen Gespräch treffen würden.
Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versuchte, noch bevor überhaupt alle Delegationen der 30 Mitgliedsländer angekommen waren, bei einem gemeinsamen Treffen mit Erdogan, der schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö, noch etwas Strecke auf dem Weg zum Kompromiss zu machen. Und was sie für eine Strecke zurücklegten.
Spät am Dienstagabend herrschte auf einmal Aufregung am Tagungsort in Madrid. Ein gemeinsamer Auftritt der vier nach ihrem Treffen, das verhiess grösser zu sein als ein blosses Update im leidigen Streit zwischen der Nato, der Türkei und den zwei Ländern, die gern beitreten würden. Und tatsächlich unterzeichneten die drei Staaten ein Memorandum, in dem festgehalten ist, dass die Türkei bei dem Gipfel die Einladung von Finnland und Schweden unterstützen werde.
Der Nato-Generalsekretär feierte diesen Erfolg, als er allein vor die Presse trat: «Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir jetzt ein Abkommen haben, das Finnland und Schweden den Weg zum Nato-Beitritt ebnet», sagte Stoltenberg. Schon am Mittwoch sollten die Länder offiziell eingeladen werden. Diese Vereinbarung zeige erneut, dass es möglich sei, innerhalb des Bündnisses Differenzen zu überwinden, wenn man sich nur zusammensetze.
Das Militärbündnis stand unter Druck, die geplante Norderweiterung mit Finnland und Schweden durchzusetzen. Mitte Mai hatten die beiden Länder ihre Beitrittsbekundungen öffentlich gemacht, alles schien abgestimmt und unkompliziert. Bis sich der türkische Präsident entschied, von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen.
Erdogan behauptet, dass Schweden und Finnland die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG unterstützen. Er forderte daher unter anderem, dass die Länder ihre Antiterrorgesetze verschärfen und Waffen in die Türkei exportieren. Auf diese Bedenken seien Finnland und Schweden eingegangen, sagte Stoltenberg nun und verwies auf eine bessere Zusammenarbeit der Länder in Bezug auf die Rüstungsindustrie. Darüber hinaus, so Stoltenberg, würden die Staaten als Nato-Alliierte die Türkei im Kampf gegen Bedrohungen ihrer nationalen Sicherheit uneingeschränkt unterstützen, sagte Stoltenberg. «Dazu gehören weitere Änderungen der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, ein hartes Vorgehen gegen PKK-Aktivitäten und der Abschluss eines Abkommens mit der Türkei über Auslieferungen.»
Ganz so einfach, die Differenzen auszuräumen, wie es der Generalsekretär darstellten wollte, stellt es sich also dann doch nicht dar. Für die Nato ist die Aufnahme von Schweden und Finnland ein deutliches Signal an Russlands Präsidenten Wladimir Putin, die grosse Bühne des Madrider Gipfels sollte nicht daran scheitern. Wobei auch Erdogan diese nicht bekam, durch die Einigung noch am Vorabend des Gipfels und ohne Anwesenheit des US-Präsidenten Joe Biden.
Schweden und Finnland sind es am Ende, die Erdogan entscheidend entgegenkommen. Der türkische Präsident hat sein Veto genutzt, um von seinen innenpolitischen Problemen abzulenken: schwache Wirtschaft, hohe Inflation und immer mehr Türken, die verarmen. Nichts, was sich in einem Wahlkampf gut macht. Und in dem befindet sich Erdogan, denn spätestens 2023 muss es im Land Wahlen geben. Da macht sich ein international stark auftretender Präsident mit klarer PKK-Botschaft besser.
Für Erdogan ein guter Auftakt in den zweitägigen Gipfel, trotz der Zugeständnisse ist die Einigung auch für die Nato sowie Finnland und Schweden eine gute Nachricht. «Unsere Politik der offenen Tür ist ein historischer Erfolg», sagte Stoltenberg. Auch vonseiten der USA und Grossbritannien kam Zustimmung zur Einigung. Der Beitritt der beiden nordischen Länder werde die Nato stärken und Finnland und Schweden sicherer machen. Und dann sprach der Generalsekretär noch das aus, was diese gesamte Gipfelwoche prägt und auch schon den G7-Gipfel in Elmau dominierte. «Wir erleben die grösste sicherheitspolitische Krise seit Jahrzehnten.» Darauf muss die Nato eine Antwort finden, Teil des Gipfels wird es sein, ein neues strategisches Konzept zu verabschieden.
Die beiden militärisch starken Nationen Finnland und Schweden hatten über viele Jahre hinweg ihre verteidigungspolitische Neutralität gewahrt. Sie nun in die Nato integrieren zu können, ist eine Antwort auf die veränderte geopolitische Lage. Was seine Botschaft an Putin sei, wurde Stoltenberg noch gefragt. «Jede Nation hat das Recht, ihren eigenen Weg zu wählen», sagte er.
Es ist eine deutliche Botschaft, es ist eine, die der Westen bemüht, seit Putin seinen Vernichtungskrieg in Europa führt. Und es ist genau das, was der russische Präsident nicht erreichen wollte. Der Westen rückt zusammen. Politisch, moralisch, militärisch. Insofern ist dieser Abend vor allen Dingen für Putin voll schlechter Nachrichten.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.