Es gibt Dinge, die sind ausserhalb der USA schwer vorstellbar. Dazu gehört, dass ein Abgeordneter an seine neuen Kollegen im Parlament Munition verschickt – als freundlichen Gruss vom Neuen im Ausschuss für militärische Angelegenheiten, versehen mit einem Brief, der zu guter Zusammenarbeit aufruft. Die 40-mm-Granatwerferpatronen, die das Büro des Republikaners Cory Mills aus Florida mit dem Logo seiner Partei hatte bedrucken lassen, waren zwar entschärft. Aber die Provokation war unübersehbar, hatten die Republikaner im Repräsentantenhaus doch kürzlich die Metalldetektoren entfernen lassen, die dort nach dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar installiert worden waren.
Das also ist die Atmosphäre, in der Joe Biden seine zweite «State of the Union» halten wird, die traditionelle Rede zur Lage der Nation. Mills gehört als eines von 535 Mitgliedern des Kongresses zu den Gastgebern, in deren Namen der Sprecher des Repräsentantenhauses Kevin McCarthy den Präsidenten eingeladen hat, an diesem Dienstagabend (Ortszeit) zu ihnen zu sprechen. Eine Gruppe von Abgeordneten der Demokratischen Partei warnt nun in einem offenen Brief, die jüngsten Erfahrungen hätten gezeigt, dass das Parlament verwundbar sei für Angriffe «von innen wie von aussen».
Zu den abgebauten Sicherheitsschranken kommt noch dazu, dass die neue republikanische Mehrheit auch die Regel abschaffte, nach der Abgeordnete des Repräsentantenhauses keine Waffe in Ausschusssitzungen tragen dürfen. Im Ausschuss für Natürliche Ressourcen gab es vor kurzem Unruhe, als sich auf die Frage, wie viele von dessen Mitgliedern gerade unbewaffnet seien, alle Demokraten meldeten, aber nur wenige Republikaner antworten wollten. Sie seien «ernsthaft besorgt um Sicherheit des Präsidenten und seiner Gäste», schreibt die Gruppe der Demokraten an die jeweiligen Fraktionsführer beider Parteien in Senat und Repräsentantenhaus.
Als eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben des Präsidenten gilt die Mehrheit der republikanischen Abgeordneten zwar nicht. Und doch ist die Aggressivität bezeichnend, mit der die Fraktion unter McCarthy die Biden-Regierung in den kommenden zwei Jahren vor sich hertreiben will. Da sind zum einen die Untersuchungen gegen Hunter Biden, die zu einem grossen Teil auf Skandalisierung beruhen, aber die Geschäftspraktiken und die Drogenvergangenheit des Präsidentensohnes eben auch permanent im Gespräch halten. Da ist die US-Grenze zu Mexiko, an der die Republikaner eine angebliche «Invasion» von Geflüchteten aus Lateinamerika beklagen, die Drogen und Kriminalität ins Land brächten. Die Regierung will mit einem neuen Sponsoringprogramm die Zahlen der illegalen Grenzübertritte senken, was im Prä-Wahlkampf-Getöse um die «Grenzkrise» allerdings untergeht. Da ist die schwierige Beziehung zu China; obwohl Biden den mutmasslichen Spionageballon abschiessen liess, werfen ihm die Republikaner vor, die Sicherheit des Landes zu gefährden. Und nicht zuletzt ist da der Fund der Regierungsdokumente in Bidens Privat- und Büroräumen, mit dem der Präsident wie auch sein Umfeld bis jetzt keinen glücklichen Umgang fanden und wegen dem nun ein Sonderermittler gegen Biden eingesetzt wurde.
In seiner Rede wird er kaum über all das sprechen, umso mehr über Erfolge. Etwa über die 517'000 im Januar neugeschaffenen Jobs, deren Zahl die Erwartungen weit übersteigt. Der Wirtschaftsaufschwung, die Führung des Westens bei der Unterstützung für die Ukraine, die umfassenden Reformen für bessere Infrastruktur und mehr Klimaschutz: Mit einer dünnen Mehrheit der Demokraten im Kongress konnte Biden immerhin einen Teil seiner Wahlkampfversprechen durchsetzen und die internationale Rolle der USA wieder stärken. Und dann sind da noch die Kongresswahlen im vergangenen November, bei denen die Demokraten erstaunlich geringe Verluste hinnehmen mussten, was für eine solche Zwischenwahl ungewöhnlich ist.
Beim Wahlrecht, aber auch bei Polizeireform und strukturellem Rassismus dagegen hat sich kaum etwas bewegt. Der gewaltsame Tod von Tyre Nichols, der Anfang Januar in Memphis von fünf Polizisten brutal misshandelt wurde, ruft das schmerzhaft in Erinnerung. Nichols‘ Eltern werden auf Einladung von Biden bei seiner Rede zu Gast sein.
Die Umfragen, die traditionell im Vorfeld der Rede die Lage der Nation aus Sicht von deren Bürgerinnen erheben, zeigen, dass selbst die Dinge, die unter Biden gut zu laufen scheinen, nicht unbedingt so wahrgenommen werden. Laut dem Umfrageinstitut Gallup ist der Anteil derjenigen, die zufrieden damit sind, wie Einkommen und Reichtum in den USA verteilt sind, von 30 auf 24 Prozent gesunken. Während die meisten anderen Werte im Vorjahresvergleich ungefähr gleich blieben, ist das ein deutlicher Unterschied zu 2022. Obwohl Wirtschaft und Arbeitsmarkt sich in der ersten Hälfte von Bidens Amtszeit gut von der Corona-Krise erholten – die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit den Sechzigerjahren nicht mehr – und die Benzinpreise wieder etwas gesunken sind, ist die Inflation für viele US-Amerikaner nach wie vor eine grosse Belastung.
Die Handlungsmöglichkeiten des Präsidenten dagegen sind beschränkt. Umso mehr dürfte er an den Kongress appellieren, dort tätig zu werden, wo es leicht ginge – etwa bei der Waffengewalt, wo die Zufriedenheit mit den geltenden Regelungen von 41 auf 34 Prozent gesunken ist. Bei einer Grundsteuer für Milliardäre. Oder bei der Anhebung der Schuldenobergrenze, ohne die in wenigen Monaten nicht nur eine Zahlungsunfähigkeit der USA und damit eine weltweite Wirtschaftskrise drohen, sondern auch der Verlust zahlreicher Arbeitsplätze im Land. Die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus, die entschlossen scheint, so viel zu blockieren wie nur möglich, will einer Anhebung nur unter Bedingungen zustimmen – über die sie selbst sich offenbar nicht einig sind.
Wie viel der Präsident in den kommenden zwei Jahren noch bewegen kann, dürfte sich erst an deren Ende zeigen. So viel Zeit wird Biden sich nicht lassen können mit jener Ankündigung, auf die derzeit alles wartet: Tritt er nochmal an? Laut seinem bisherigen Stabschef Ron Klain kandidiert Biden erneut. Bei seiner Verabschiedung aus dem Weissen Haus vergangene Woche sagte Klain in Richtung Biden, er freue sich darauf, 2024 an dessen Seite zu sein.
Sollte das wirklich der Fall sein und Biden an diesem Dienstag bekannt geben, dass er offiziell eine zweite Amtszeit anstrebt, ist der Präsidentschaftswahlkampf offiziell eröffnet. Während aufseiten der Republikaner Donald Trump damit zu kämpfen hat, dass da inzwischen viele sind, die genauso reden, provozieren und hetzen wie er, hat Biden immer noch zwei wichtige Alleinstellungsmerkmale auf seiner Seite: Zum einen ist er Amtsinhaber, zum anderen derjenige, der es schon einmal schaffte, Trump zurückzudrängen.
Aber der Dokumentenskandal, sein hohes Alter und die Unzufriedenheit vieler US-Amerikanerinnen – auch wenn Bidens Umfragewerte schon wesentlich niedriger waren als jetzt – sprechen gegen ihn. Nicht ausgeschlossen, dass aus den Reihen der Demokraten mit der Konvention gebrochen wird und es Gegenkandidaten gibt. Schliesslich spricht die Tatsache, dass Trump derzeit immer mehr an Bodenhaftung bei den Republikanern verliert und ihn niemand öffentlich unterstützen mag, dagegen, dass dieser ein drittes Mal deren Kandidat wird. Das Duell mit Trump als Raison d'Être von Bidens möglicher Kandidatur wackelt – und damit auch sein eigener Rückhalt. Sollte es am Ende doch auf ein Rennen Biden gegen Trump hinauslaufen, hätten jüngere Demokraten, die ihn möglicherweise herausfordern, sich allerdings umsonst hinausgewagt und damit ihre Chancen für 2028 gefährdet.
Am Ende wird die spannendere Rede des Abends nicht zwingend die von Biden sein. Für die übliche Entgegnung der Opposition nach der State of the Union ist Sarah Huckabee Sanders angekündigt, Gouverneurin von Arkansas und als seine Pressesprecherin eine frühere Vertraute Trumps, in letzter Zeit aber auffällig schweigsam. Stellt sie sich nun schliesslich doch hinter den früheren Präsidenten? Oder signalisiert sie in aller Öffentlichkeit, dass Trump diesmal nicht mit dem uneingeschränkten Rückhalt der Republikaner rechnen kann? Das wird nicht nur über dessen Chancen für 2024 entscheiden – sondern auch über Bidens.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Cpt. Jeppesen
Ich glaube nicht, dass Biden in 2024 noch einmal antreten sollte, trotz seiner politischen Erfolge. Wenn Biden gute 4 Jahre abliefert und dann Platz macht für einen frischen Kandidaten, dann sind dessen Wahlchancen vermutlich höher, als die von Biden, zumal ein frischer und jüngerer Kandidat gegen Trump und sein tumbes Auftreten glänzen könnte.