Wenn am heutigen Montag der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Vertrauensfrage an das deutsche Parlament richten wird, dann werden sich wahrscheinlich einige Abgeordnete noch an das letzte Mal erinnern, als ein Kanzler das tat. Jens Spahn, Friedrich Merz, Katrin Göring-Eckardt, Rolf Mützenich, aber auch Olaf Scholz selbst sassen schon im Bundestag, als am 27. Mai 2005 Gerhard Schröder ans Mikrofon trat und die Abgeordneten aufforderte, ihm nicht das Vertrauen auszusprechen.
Wahrscheinlich werden sich die meisten, die damals dabei waren, auch noch an den kurzen, aber eindringlichen Auftritt des grünen Abgeordneten Werner Schulz erinnern. Der frühere DDR-Bürgerrechtler kam kurz nach Schröder ans Pult und sagte: «Ich werde mich an dieser Abstimmung nicht beteiligen. Was hier abläuft, ist ein inszeniertes, ein absurdes Geschehen.» Diese Vertrauensfrage, sagte Schulz, der Mitglied der rot-grünen Parlamentsmehrheit war, sei «fingiert».
Was Schulz zu diesen Worten brachte, war, dass Kanzler Schröder die Vertrauensfrage damit begründet hatte, keine tragfähige Parlamentsmehrheit mehr zu haben. Das war schon damals zumindest umstritten, schliesslich verfügte Rot-Grün über eine Mehrheit von drei Stimmen – und am Anfang der Legislaturperiode hatte Schröder angesichts von nur fünf Stimmen Mehrheit noch getönt: «Mehrheit ist Mehrheit – und wenn wir sie haben, werden wir sie nutzen.»
Schröder wollte nach mehreren verlorenen Landtagswahlen vor allem in die politische Offensive kommen. Da bestand nur ein Problem: Der Kanzler kann laut Verfassung das Parlament nicht einfach so auflösen. Eine der wenigen Möglichkeiten, das zu tun, ist es, eine Vertrauensfrage zu verlieren. Also behauptete Schröder, er habe keine Mehrheit mehr – und forderte die eigenen Abgeordneten auf, ihm das zu beglaubigen.
Auf den Abgeordneten Schulz wurde damals nicht gehört. Gerhard Schröder verlor die Vertrauensabstimmung, im September 2005 wurde gewählt. Aber Schröders Kalkül ging trotz fulminanter Aufholjagd im Wahlkampf nicht auf. Angela Merkel wurde Kanzlerin und blieb es für 16 Jahre.
Nicht endgültig geklärt hingegen ist die Frage, wie viel Spielraum ein Kanzler beim Umgang mit dem Instrument der Vertrauensfrage genau hat. Kann er oder sie damit letztlich Wahlen ausrufen, wenn es ihm passt? Kann es auch in Deutschland so werden wie etwa im Vereinigten Königreich, wo der Premierminister, wenn ihm die Umfragen günstig erscheinen, Neuwahlen ansetzt?
Die kurze Antwort lautet: Nein. Das Grundgesetz hat explizit Vorkehrungen getroffen, häufige Neuwahlen und Regierungswechsel zu erschweren. Es war die Erfahrung der Weimarer Republik, in der eine Regierung nach der anderen vom Parlament gestürzt wurde und am Ende der Reichspräsident mit Kanzlern seiner Wahl und Notverordnungen regierte. Zu diesen Vorkehrungen gehört auch, dass es überhaupt nur zwei Möglichkeiten gibt, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen durchzuführen: Entweder weil niemand die erforderliche Mehrheit erreicht, um Bundeskanzler zu werden, oder weil ein Bundeskanzler die von ihm gestellte Vertrauensfrage verliert.
Doch es gibt auch eine kompliziertere Antwort. Denn das wirkmächtige Instrument der Vertrauensfrage wurde bei den fünf Malen, die es bisher zum Einsatz kam, teils aus anderen Gründen eingesetzt, als dazu, dem Kanzler das Vertrauen auszusprechen. Mal diente die Drohung mit Neuwahlen wirklich zur Disziplinierung der eigenen Abgeordneten, dann ging es, wie bei Schröder 2005, darum, Neuwahlen absichtlich herbeizuführen – Verfassungsrechtler nennen das die «unechte Vertrauensfrage».
Willy Brandt, der die Vertrauensfrage 1972 als Erster stellte, konnte sich seiner Mehrheit tatsächlich nicht sicher sein. Nach dem Überlaufen zweier Abgeordneter seiner sozialliberalen Koalition zur Opposition herrschte ein parlamentarisches Patt. Es war allerdings Brandts erklärtes Ziel, nicht das Vertrauen ausgesprochen zu bekommen, sondern Neuwahlen herbeizuführen. Die bekam er, es gab eine bis heute unerreichte Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent und Brandts Koalition mit der FDP hatte danach eine satte Mehrheit.
Im Frühjahr 1982 hatte dann auch Helmut Schmidt berechtigte Zweifel an der Stabilität seiner Koalition aus SPD und FDP. Zu gross war der Widerstand in den eigenen Reihen gegen den Nato-Doppelbeschluss und seine Wirtschaftspolitik. Er brachte die Abgeordneten mit der Vertrauensfrage noch einmal hinter sich, allerdings zerbrach das Bündnis trotzdem kurz darauf. Schmidt wurde von den Abgeordneten abgewählt, Helmut Kohl übernahm sein Amt. Möglich war das durch ein konstruktives Misstrauensvotum – die einzige Möglichkeit, einen Kanzler während seiner Amtszeit abzuwählen. Dafür muss der Bundestag dem Kanzler nicht nur das Misstrauen aussprechen, sondern zugleich auch eine andere oder einen anderen wählen.
Auch Kohl nutzte das Instrument der Vertrauensfrage einige Monate später, und zwar ganz ohne, dass ihm eine Mehrheit fehlte. Er verfügte, nachdem die Abgeordneten der FDP zur Union übergelaufen waren, über ein deutliches parlamentarisches Übergewicht. Trotzdem stellte auch er die Vertrauensfrage, in der Absicht, das Misstrauen ausgesprochen zu bekommen, um Neuwahlen herbeizuführen.
Es war aus Kohls Sicht verständlich, sich nach einem Regierungswechsel ein neues Wählervotum holen zu wollen. Und gleichzeitig war klar sichtbar, dass hier ein Verfassungsinstrument gehackt wurde. Die Abgeordneten von Union und FDP entzogen Kohl das Vertrauen, obwohl das Gegenteil stimmte: Sie vertrauten ihm und wollten durch eine Neuwahl seine Mehrheit bestätigen.
Die Verfassungsorgane stoppten Kohl damals nicht. Weder Bundespräsident Karl Carstens, ein früherer CDU-Mann und Jurist, der zwar erhebliche Bedenken hatte, aber sich schliesslich fügte. Noch das Bundesverfassungsgericht, in dem – trotz eines Minderheitenvotums zweier Richter – die Mehrheit Kohls Umnutzung der Vertrauensfrage als legitim ansah. Kohl bekam seine Neuwahl und gewann sie im März 1983 gegen die SPD und ihren Spitzenkandidaten Hans-Jochen Vogel.
Für den Berliner Rechtshistoriker Jan Thiessen bedeutet die Vertrauensfrage Kohls «eine Geringschätzung dessen, was die Verfasser des Grundgesetzes sich gedacht haben». Denn von nun galt de facto: Der Bundeskanzler entscheidet, ob seine Mehrheit in Gefahr ist und deswegen Neuwahlen nötig sind. Zwar muss der Bundespräsident zustimmen, doch um abzulehnen, braucht er erstens Rückgrat und zweitens konkrete Hinweise, dass die Begründung des Kanzlers oder der Kanzlerin nur vorgeschoben ist. Ein «Quasi-Selbstauflösungsrecht» nannte das später die FAZ.
Auch das Verfassungsgericht selbst erlegte sich bereits damals auf, die politische Tatsachenentscheidung des Kanzlers nur sehr zurückhaltend zu bewerten. Damit akzeptiert Karlsruhe hier wie in ähnlichen Fällen einen «Kernbereich des Politischen», wie Thiessen das nennt. «Man könnte auch sagen: Wenn nicht gerade ein Papier geleakt wird, aus dem deutlich hervorgeht, dass die fehlende Mehrheit inszeniert ist, dann geht das Verfassungsgericht nicht dagegen vor», sagt Thiessen.
Kohl selbst nutzte die Vertrauensfrage in den 16 Jahren seiner Amtszeit nicht mehr. Dafür tat es sein Nachfolger Gerhard Schröder gleich zweimal. Beim ersten Mal, im November 2001, wollte Schröder noch die Stabilität seiner Koalition sicherstellen, wie es Helmut Schmidt 1982 getan hatte. Weil mehrere Abgeordnete – unter ihnen die heutige grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke – gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan stimmen wollten, verband Schröder die Abstimmung darüber mit der Vertrauensfrage. Die acht grünen Abweichler verabredeten daraufhin, dass vier von ihnen für den Einsatz stimmen würden. Schröders Manöver gelang, er gewann die Vertrauensfrage.
Anders vier Jahre später, als Schröder nach mehreren verlorenen Landtagswahlen erneut die Vertrauensfrage stellte, dieses Mal mit der ausgesprochenen Absicht, sie zu verlieren.
In seiner Rede im Bundestag berief er sich auf die Präzedenz, die Helmut Kohl gesetzt hatte. Der Kanzler nutzte Formulierungen, die es dem Bundespräsidenten und anschliessend dem Bundesverfassungsgericht einfach machen würden, Neuwahlen zu ermöglichen. Schröder sprach von «meiner politischen Bewertung» und machte explizit, «dass ich unter den aktuellen Bedingungen nicht auf das notwendige, auf stetiges Vertrauen im Sinne des Artikels 68 Grundgesetz rechnen kann». Artikel 68 regelt die Vertrauensfrage.
Es kam so, wie es Schröder geplant hatte: Erwartungsgemäss sprach ihm die Opposition das Misstrauen aus, viele aus den Regierungsfraktionen aus SPD und Grünen taten es auch. Wochen danach löste Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auf. In einer Fernsehansprache räumte Köhler ein, viele Menschen empfänden «Unbehagen wegen des Verfahrens». «Aus guten Gründen» sehe das Grundgesetz nur ausnahmsweise vorgezogene Wahlen vor. Allerdings habe das Verfassungsgericht 1983 geurteilt, der Bundespräsident habe dabei «die Einschätzung des Bundeskanzlers zu beachten, es sei denn, eine andere Einschätzung ist eindeutig vorzuziehen».
Rechtshistoriker Thiessen sieht das kritisch: «Bundespräsident Carstens hat 1983 noch Bedenken formuliert, aber von Köhler kam kaum noch etwas. Er hat gesagt: Ich, der Bundespräsident, bin auch nicht klüger als der Kanzler.» Man könnte auch sagen: Wenn der Kanzler sagt, dass die Mehrheit futsch ist, dann wird das so sein.
Immerhin: Wenn Olaf Scholz am Montag die Vertrauensfrage stellen wird, dann wird es kaum verfassungsrechtliche Zweifel daran geben. Scholz' Mehrheit ist wirklich futsch, selbst wenn er keine Neuwahlen wollte, bliebe ihm wenig anderes als die Vertrauensfrage. Andererseits schade, denn vielleicht wäre es Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht noch einmal diskutiert, wann die Vertrauensfrage gestellt werden darf.
Denn in einer Zukunft, in der instabile Koalitionen eher die Regel als die Ausnahme sein werden, wird die Debatte über unechte Vertrauensfragen wieder auftauchen. Braucht es unkompliziertere Wege, um Neuwahlen herbeizuführen, wenn eine Regierung sich nicht mehr führen lässt? Besonders in Thüringen konnte man in den vergangenen fünf Jahren sehen, zu welcher politischen Lähmung es führen kann, wenn ein Landtag weder mehrheitsfähige Regierungen ermöglicht noch sich auflöst. Und dort ermöglicht die Verfassung schon prinzipiell eine Auflösung des Landtags.
Oder ist es andersherum? Sollte es gerade jetzt erschwert werden, einfach eine Bundestagswahl anzusetzen, wenn es mit der Koalition nicht klappt? Das sagt zumindest Thiessen. «Ich wäre sehr dagegen, den Weg zu Neuwahlen zu vereinfachen.» Es sei nicht ausgeschlossen, dass es eines Tages verantwortungslose Regierungschefs gebe, die den Spielraum nutzten, immer wieder Neuwahlen auszurufen, wenn es ihnen passt. Machbar wäre es angesichts der Karlsruher Rechtsprechung jetzt schon. Um solchen Missbrauch zu verhindern, sagt Thiessen, brauche es keine Grundgesetzänderung. Sondern ein Verfassungsgericht, das das Grundgesetz wieder stärker im Sinne der Verfasser auslege.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.