Magersucht
Sie hungerte sich fast zu Tode: «Mein Herz begann sich abzubauen»

Nicole Knörr hungerte sieben Monate lang, um zu verschwinden, wie sie selber sagt. Fast wäre ihr das gelungen. Ihre Organe begannen bereits, sich abzubauen. In ihrem Buch erklärt die 21-Jährige, wie sie den Willen zum Leben zurückgewann.

Janine Gloor
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Fünf Kalorien pro Tag hat Nicole Knörr zu sich genommen. Mit 13 Jahren ist sie magersüchtig geworden, nach sieben Monaten nahm sie nur noch fettfreie Bouillon zu sich. Ihr Body Mass Index (BMI), der das Verhältnis von Körpergewicht zur Grösse anzeigt, war auf unter 9 gesunken. Mit einem Wert unter zehn wird man als nicht mehr überlebensfähig eingestuft.

Doch Nicole Knörr, die in Leibstadt AG aufwuchs, hat es geschafft. Die heute 21-Jährige hat ein Buch über ihre Krankheit geschrieben. "Magere Jahre – Wie ich meine Essstörung überwand" heisst es.

Ihr Herz begann, sich abzubauen

Im "Talk Täglich"-Studio deutet nichts darauf hin, dass die junge Frau eine schwere Krankheit durchgemacht hat. Ihre braunen Haare glänzen, mit sicherer Stimme erklärt sie Moderator Hugo Bigi, welche Folgen die Magersucht für ihren Körper hatte:

«Mein Körper begann, ein Fell zu wachsen, um mich zu wärmen. Die Zähne sind mir fast ausgefallen und mein Gehirn funktionierte nicht mehr richtig. Ich fühlte mich wie eine Demenzkranke. Die Organe litten, meine Blase war so schlecht, dass ich dauernd in die Hose machte. Mein Herz begann sich abzubauen. Ich hatte Herzrasen und Schwächeanfälle.»

Zum Schluss war Nicole Knörr zu schwach, um eine Treppe hochzusteigen oder gar einen Löffel zu halten.

«Ein Fahrplan in den Tod», fasst Bigi die Schilderung zusammen. «Wurde dir das nicht bewusst?» Bewusst war Knörr schon, dass sich der Körper langsam verabschiedete. Dass sie ihm die Nahrung und somit die Energie zum Leben verweigerte. «Man ist sich dessen bewusst. Aber man hat nicht wirklich Angst davor», sagt Knörr. «Mir hat das Leben fast mehr Angst gemacht.»

Nicole Knörr hat sexuelle Gewalt erlebt. Dieses Trauma führte zur Magersucht. «Ich konnte nicht mehr mit meinem eigenen Körper umgehen», sagt sie. Schlimmer noch, sie hasste ihren Körper. Wollte so hässlich und unattraktiv wie möglich sein, damit kein Mann sie attraktiv finden würde.

Hungern als Ablenkung

Das Hungern war auch Ablenkung. «Ich habe mich ins Hungern geflüchtet. Weil ich nur noch an Kalorien dachte, habe ich nicht mehr über den richtigen Schmerz nachgedacht.» Alle ihre Gedanken kreisten ständig ums Essen. Sie las Kochbücher und schaute Kochsendungen. Doch ihrem Körper verweigerte sie die Nahrung. Dazu schloss sie sich stundenlang im Badezimmer ein, wo sie an Ort joggte oder Gymnastikübungen machte.

Nicole Knörrs Umfeld war schockiert. «Meine Schwester war total verzweifelt, hatte ständig Angst, dass ich sterben würde.» Die Familie versuchte, auf sie zuzugehen. Doch die Teenagerin reagierte mit Ablehnung, wurde aggressiv. Familie und Freunde waren überfordert. «Das ist typisch für die Magersucht», weiss sie heute. «Je mehr man sich zurückzieht, desto mehr kann man hungern.»

Nach sieben Monaten wurde Nicole Knörr notfallmässig in eine Klinik eingeliefert. Sie war so dünn, dass sie gar nicht sagen will, wie viel sie damals wog. Denn unter Magersüchtigen herrscht Konkurrenz. «Alle wollen leichter werden als die anderen, weil dies das einzige Ziel im Leben ist.» Die Magersucht lässt keinen Platz für Hobbies oder soziale Beziehungen. Bevor es für Nicole Knörr zu spät war, hat sie das bemerkt. «Irgendwann habe ich mich gefragt: ‹Wo ist mein Leben hin?› Und ich wollte es zurück.»

Sie will Betroffenen helfen

Sie schaffte den Weg zurück ins Leben. Schrieb ein Buch, in dem sie offen über ihre Krankheit berichtet. Das kostete Überwindung. «Dank dem Buch können mich Leute erkennen und wissen mehr über mich, als ich ihnen womöglich erzählen würde», sagt sie. «Aber wenn ich nur zwei Leuten helfen kann, ist es mir das wert.»

Hugo Bigi fragt nach Tipps für Betroffene. «Das Allerwichtigste ist, sich in professionelle Behandlung zu begeben», sagt Nicole Knörr. Und auch für das Umfeld hat sie Ratschläge: «Die Person ansprechen. Aber keine Vorwürfe machen.» Wichtig: Während des Gesprächs sollte kein Essen auf dem Tisch stehen, nur so habe man eine möglichst entspannte Atmosphäre.

Zum Schluss fragt Bigi sie nach ihrem Lieblingsessen. Nicole Knörr lacht. «Ich liebe Asiatisch. Fried Rice mache ich fast jede zweite Woche.»

Die ganze Sendung können Sie sich hier anschauen: