Als Juma, 24, und Kerem, 21, über den niedergetrampelten Stacheldraht steigen, stehen sie auf türkischem Boden – und wollen nur noch zu dem Kiosk ein paar hundert Meter weiter. Sie setzen an zum Lauf, stolpern über ihre eigenen Füsse, der Schweiss rinnt ihnen über das Gesicht. Sie reissen den Kühlschrank vor dem Laden auf, jeder greift nach einer Plastikflasche Mineralwasser und trinkt sie in einem Zug aus. Dann kaufen sie Kekse. Während der eine noch zahlt, fängt der andere an zu essen.
Seit drei Wochen, seit die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die syrische Grenzstadt Kobane belagert, haben die Brüder gekämpft. Sie sprechen offen, fotografieren lassen sie sich aber nicht. «Wir waren vorher normale Leute, keine Krieger», sagt Juma. «Aber als wir sahen, welches Schicksal uns droht, schlossen wir uns den kurdischen Volksschutzeinheiten an.» Sie nennen die Organisation YPG, es ist der syrische Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die ihren Ursprung in den kurdischen Gebieten in der Türkei hat.
Beide haben Schürfwunden an den Armen, Kerems linkes Auge ist geschwollen. «Vom Rückstoss des Gewehrs», sagt er und grinst. Die beiden wirken erleichtert. Den Häschern des IS sind sie entwischt – aber auch die türkischen Sicherheitskräfte haben sie nicht entdeckt. Diese wollen unbedingt verhindern, dass PKK-Kämpfer aus Syrien in die Türkei kommen.
Die vergangenen drei Tage haben Kerem und Juma in einem zerbombten Gebäude verbracht. Im Wechsel haben sie ab und zu ein paar Stunden auf nacktem Beton geschlafen und ansonsten versucht, das Viertel im Zentrum von Kobane gegen vorrückende IS-Milizen zu verteidigen. «Es hatte keinen Sinn», sagt Kerem. «Die sind viel stärker als wir, weil sie über viel modernere Waffen verfügen.»
Dann sei auch noch die Munition knapp geworden, sie hätten sparsam damit umgehen müssen. «Unsere stärkste Waffe war am Ende das Gebet. Das ist nicht gut», sagt Juma.
Wofür hat er gebetet? «Dass die USA ihre Luftangriffe verstärken und zusätzlich Hubschrauber schicken.» Kerem sagt: «Oder dass sie es ganz sein lassen, denn die paar Luftschläge besiegen die Terroristen nicht, sondern machen sie nur noch aggressiver. Und da uns sonst niemand zu Hilfe kommt, wird es für uns Kurden noch schwieriger.»
Klar, die Kämpfe zermürben, sagen Kerem und Juma. Aber dann ist da auch noch diese quälende Ungewissheit. Mal heisst es, der IS würde ein Drittel der Stadt kontrollieren. Dann wieder, nahezu der komplette Ort sei in Dschihadisten-Hand. «Einen genauen Überblick hat vermutlich nur noch die Führung unserer Einheiten», sagt Juma. «Hoffe ich jedenfalls.»
Als die Lebensmittel ausgingen und die beiden seit bald zwei Tagen nichts mehr gegessen hatten, entschlossen sie sich, in die Türkei zu flüchten, in den Grenzort Suruc. «Die Grenze ist zwar dicht, aber es gibt Schlupflöcher in beide Richtungen», erklärt Juma. Am Donnerstagmorgen, als wieder Luftschläge gegen IS-Stellungen geflogen wurden, nutzten sie die Gelegenheit zur Flucht.
Jetzt wollen sie bei Angehörigen in Suruc unterkommen. Bis vor kurzem spielte die Trennung zwischen Syrien und der Türkei in dieser Region keine Rolle, viele Familien leben auf beiden Seiten der Grenze. Wollen sie wieder zurück, nachdem sie sich gestärkt haben? Beide schweigen. Dann sagt Kerem: «Das hängt davon ab, ob uns jemand zu Hilfe kommt oder nicht. Ohne Hilfe von aussen macht es keinen Sinn.»
Der heimliche Grenzverkehr läuft in beide Richtungen. Trauer und Wut stacheln auch in der Türkei viele junge Männer an, jetzt erst recht nach Kobane zu gehen. Mustafa, 27, will noch am Donnerstagabend in die Schlacht ziehen. Er stammt aus Suruc, aber auch seine Familie lebt teilweise in Kobane. Zwei Cousins kämpfen dort gerade.
Auch Mustafa ist bereit: «Ich habe meine Sachen schon dabei. Heute Abend gehe ich über die Grenze», sagt er. Seine Cousins haben ihm gesagt, an welcher Stelle er unbemerkt passieren kann. Auf die Frage, was das Ganze denn bringen soll, zuckt er mit den Schultern. «Das ist jetzt doch eh egal. Was haben wir noch zu verlieren?»
Ob sie aus Kobane kommen oder dorthin wollen, die Kurden sind in einer verzweifelten Lage. Von Westen, Süden und Osten werden sie von IS-Kämpfern angegriffen, im Norden liegt die Grenze zur Türkei, die mehr oder weniger geschlossen ist. Selbst wenn mehr kurdische Kämpfer kommen wollten, kämen sie nicht in der erforderlichen Zahl unentdeckt nach Kobane.
«Man müsste uns Waffen geben», sagt Mustafa. «Damit wir den IS auf Augenhöhe bekämpfen können. Und man müsste uns ungehindert mit diesen Waffen nach Kobane einreisen lassen. »
Aber die PKK ist in der Türkei, in der EU und in den USA als Terrororganisation eingestuft, und als solche wird sie keine Waffen erhalten. Die Türkei ist streng gegen eine Änderung dieses Status, auch wenn seit Monaten im Hintergrund Friedensgespräche laufen.
Die Schlacht um Kobane hat die Annäherungen zwischen der Regierung in Ankara und Kurden zurückgeworfen. Bei gewalttätigen Demonstrationen in der Türkei sind mindestens 21 Menschen ums Leben gekommen.
«Wir erwarten jetzt keine türkische Bodenoffensive gegen den IS», sagt Mustafa. «Aber die Türkei soll endlich aufhören, eine Schutzzone in Syrien zu fordern, die ausgerechnet in den kurdischen Gebieten liegt.» Was sie damit verfolge, sei ihm klar: die Kontrolle über die Kurden zu erlangen.
Am frühen Abend, die Sonne ist noch nicht untergegangen, verabschiedet er sich von Freunden und macht sich auf den Weg zur Grenze. Er wählt einen Pfad durch Felder, vorbei an einer Moschee, bis er an den Stacheldrahtzaun kommt. Dort hat jemand ein Loch hineingeschnitten, die Erde ist zertrampelt, offensichtlich überqueren hier viele Menschen die Grenze. Kaum ist er auf der anderen Seite, fängt er an zu rennen. Er dreht sich nicht mehr um.