Wo die «Originalgedanken» des Autors aufhören, beginnt die Fantasie der Fans. Bei den sogenannten «Fanfictions» reimen sich angefressene Bücherwürmer ihre eigenen Geschichten zusammen. Da kommen die bisexuellen Gelüste der Protagonisten zum Vorschein, die vernachlässigten Nebencharaktere kriegen die Relevanz, die ihnen eigentlich zustehen müsste und am allerbesten: Es wird gesagt, gedacht und getrieben, was sich sonst niemals jemand trauen würde, abzudrucken.
Eine besonders blühende Fanfiction-Kultur hat die Harry-Potter-Community. Um das Leben des nerdigen Magiers, den die Welt vor ziemlich genau 21 Jahren kennen und lieben gelernt hat, kursieren Geschichten, welche das brave Werk von J. K. Rowling mit den Themen auflädt, welche die Jugendlichen tatsächlich auch noch interessieren: Zum Beispiel (und hauptsächlich) Sex.
Und um noch etwas genauer zu sein: Um Homo-Sex. Fanfictions, bei denen Fans ihren Lieblingscharakteren eine homoerotische Ader unterstellen und jener Neigung dann eine verbotene Geschichte im Hinterzimmer widmen, nennt man «Slash-Stories». Der Reiz bei den Slash-Stories liegt nicht selten darin, möglichst viele gesellschaftliche Tabus zu brechen; darzustellen, was sonst meist unsagbar bleibt.
Beispiel gefälligst? Voilà!
Titel: «The Body Who Died A Lot»
Inhalt: Harry wird getötet. Professor Snape kann das nicht wahrhaben und baut deshalb eine Zeitmaschine, um seinem Schützling, dem er ja generell sehr harsch begegnet, das Leben zu retten. Aber wie es eben so ist, mit den Zeitreisen den Lauf der Dinge zu ändern, ist eien schwieriges Unterfangen. Während Harry nun immer wieder vom Tod heimgesucht wird, fühlt sich Snape verantwortlich den jungen Magier ständig zu retten. Daraus entsteht eine heftige Romanze mit ziemlich expliziten Besenkammerszenen. Im Sinne von: Thank you daddy, for saving me …
In der Tat wird den beiden Charakteren sehr oft ein unausgesprochenes Verhältnis angehängt. In der sechsteiligen Fiction-Serie «The Tea Series» interessiert sich Snape bereits für Harry als dieser noch 13 war. Als er in Band drei dann endlich 16 wird und das Schutzalter hinter sich gelassen hat, fallen die beiden hemmungslos über einander her.
Aber Snape und Harry sind bei weitem nicht die einzigen ungewöhnlichen Slash-Paare. Es gibt auch homoerotische Geschichten mit Harry und Draco Malfoy oder sogar mit Harry und Lord Voldemord. Wer sich die ganze Ladung geben will, soll mal in die kleine Horror-Orgie-Geschichte «Death Eaters At The Malfoy Estate» reinschmöckern.
Äusserst interessant bei den Slash-Storys ist, dass die meisten Autorinnen dieser Textform von sich behaupten, sie seien Heterofrauen. Elenor, die selbst gerne Slash-Storys mit trieblustigen Männerpaaren schreibt, erklärt dieses Phänomen in einem Forenbeitrag folgendermassen:
Dass gerade die Welt von Harry Potter seinen Fans zu blumigen bis perversen Fantasien anregt, kommt nicht von irgendwoher. Als J. K. Rowlling 1997 den ersten Band herausgab, brach beinahe ein globales Potter-Fieber aus. Darunter versteht man eine überschwängliche Identifikation mit den Zauberschülerinnen und Zauberschülern aus Hogwarts. Das Abtauchen in eine Fankultur wird von Skeptikern oft auch als Realitätsflucht angesehen. Eine Flucht, die im Fall der Fanfictions grosses Potenzial birgt: Denn jenseits der Realität können Dinge gedacht und Fragen beantwortet werden, die in der «normalen» Welt stets unhinterfragt bleiben.
Zum Beispiel die sexuellen Bedürfnisse eines Gebäudes.
Titel: «First Encounter»
Inhalt: Es ist Sommer. Die SchülerInnen haben alle Hogwarts verlassen. Das Gebäude fühlt sich allein. Und äussert ein – naja – sexuelles Verhalten mittels Windstössen. Der Riesentintenfisch, der im See vor der Schule haust, hört dieses Verlangen und «steckt den einen Tentakel dorthin, wo sonst die Schuldmädchen rumturnen.»
Weiteres Zitate lautet wie folgt:
Tintenfisch: «Ja, das fühlt sich gut an. Aber weisst du, das ist noch nicht einmal mein längster Tentakel.
Hogwarts-Schulhaus: «Ich will sie alle in mir haben.»
Kann ja schon irgendwie erotisch sein, so ein Tintenfisch-Gebäude-Fick oder nicht?
Spass bei Seite. Natürlich sind einige Fanfictions abgedreht und viele davon sind wahrscheinlich auch überhaupt nicht ernst gemeint; dienen der reinen Belustigung und sind absichtlich absurd konzipiert. Viele Leute scheinen dies aber nicht zu schnallen. Bei britischen Google-Servern wird nämlich bei den Suchbegriffen im Zusammenhang mit «Fanfiction» Folgendes vorgeschlagen:
Es scheint, als würden viele Leute keinen Sinn darin sehen, dass sich einige Menschen die Zeit dafür nehmen, die Geschichten einer fremden Person weiterzuentwickeln, die eigentlich schon abgeschlossen sind. Und das erst noch ohne Bezahlung und für ein unglaublich kleines Publikum.
Ganz anders sieht das die Bloggerin Jane Hu. Für sie haben Fanfictions revolutionäres Potenzial. Sie meint, dass nebst den homophilen Heterofrauen auch viele LGBT-Menschen Fanfictions schreiben. Gerade in der Harry-Potter-Community. Ganze 62 Prozent der Fanfictioners sollen sich laut einer Datenanalyse als nicht-heterosexuell identifizieren. Für diese Menschen geht es denn auch weniger um den Kick, als um die Repräsentation und die Verarbeitung ihrer eigenen Probleme.
Ziehen wir an dieser Stelle doch nochmal ein Beispiel heran …
Die Philosophin und Geschlechterwissenschaftlerin Dr. Kristina Busse meint, dass es für viele Jugendliche, die sich irgendwie anders fühlen, extrem wichtig sein kann, Fanfictions zu schreiben. Die Geschichte von jungen Trans-Teenies, zum Beispiel, wird in nahezu keinem Buch oder keiner TV-Serie behandelt. Es gibt fast keine Charaktere, die etwa einem jungen Trans-Mädchen das Gefühl geben würden, dass das, was sie fühlt, auch noch andere fühlen.
Deshalb, so Kristina Busse, sei Fanfiction für viele LGBT-Jugendliche ein essentieller Bestandteil in ihrer Selbstfindung. Weil dieser Kult es ihnen erlaubt, ihre eigene Verwirrung auf fiktive Charaktere zu projizieren, anhand deren Geschichte sie sich selbst kennenlernen können. So zum Beispiel in dieser Geschichte.
Titel: «Becoming Female»
Inhalt: Snape gibt Harry einen Zaubertrank, der Harrys Körper, in einen «weiblichen» Körper verwandelt. So lernt Harry, die sich von nun an Crystal nennt und weibliche Pronomen verwendet, was es heisst, von der Gesellschaft als Frau wahrgenommen zu werden. Ron entpuppt sich indes als ein frauenfeindliches Arschloch und – es ist ja schliesslich Fanfiction – Draco Malfoy verliebt sich in Crytsal. Die Geschichte zeigt, wie fluid Geschlecht eigentlich ist und dass die Art, wie wir mit Menschen und ihrer Geschlechtszugehörigkeit umgehen, nicht biologisch, sondern gesellschaftlich ist.
Fanfiction muss nicht immer nur bestärkend und wertvoll sein. Sie kann durchaus auch problematische Züge annehmen. Als vor 21 Jahren das Potter-Fieber ausbrach, haben sich einige Fangemeinschaften in eine Richtung entwickelt, die beinahe schon faschoid anmutet.
Das waren Menschen, die sich so stark mit dem Paralleluniversum von J. K. Rowling identifiziert haben, dass die Trennung von Muggeln (Leuten, die nicht zaubern können) und Magiern auf ihr eigenes Leben angewendet haben. In dieser Logik werden alle «besonderen Menschen» (die Magier) von den Normalos (den Muggeln) ausgegrenzt und diskriminiert. Sie sehen in der Möglichkeit, dass sich die MagierInnen an Zauberschulen organisieren, als Chance sich an den Muggeln zu rächen. Schliesslich kann das in sehr gewalttätigen Fanfictions münden, wie folgendes Beispiel zeigt.
Titel: «Nach dem Missbrauch – Teil 1»
Inhalt: Snape bricht ins Haus der Dursleys ein; also bei Harrys Tante und Onkel, die ihn grosszogen und sehr schlecht behandelt haben. Aus Rache für die fahrlässige Erziehung tötet Snape die ganze Familie auf brutale Weise. Danach bringt er Harry bei, wie man Muggel quält und foltert. Er bildet ihn quasi zu einer Terroristen aus und ernennt ihn zu einem Hexenmeister-Messias.
Diese Fanfiction ist bestimmt eine der brutalsten Harry-Potter-Fan-Geschichten. Was jedoch nicht heisst, dass es nicht noch unzählige weitere Stories von Harry-Potter-Fans gibt, die voller Gewalt stecken. Gerade die Fanfictions mit sexuellem Inhalt, weisen auch oft Szenen auf, die an Vergewaltigungen grenzen.
Doch dieser Diskurs ist, ob Baller-Games, Porno-Seiten oder BDSM-Keller, wohl überall derselbe. Das Wörtchen Fiktion ist und bleibt die Essenz des Ganzen.