Februar 2018, Sydney, Australien, die Menschen spinnen: Alle wollen ins Museum, in die bunte, halluzinogene Welt der Pipilotti Rist. Das Museum droht zu platzen. Es denkt sich, okay, wenn wir den Leuten verbieten, Selfies zu machen, kommen weniger. Und dann? «Dann ging der Schuss nach hinten los», sagt Pipilotti Rist überaus zufrieden, «dann kamen noch mehr Leute. Weil alle die Ausstellung noch einmal ohne Handy sehen wollten.»
Rists Welterfolg ist mit jedem Jahr noch krasser, eine Explosion der Besucherrekorde, der Begeisterung, Beyoncé kopierte sie in «Lemonade», ihr Einfluss sprengt jede Dimension. Und jetzt sitzt sie da, auf einer Bühne im Zürcher Museum für Gestaltung und erzählt. Zum Beispiel über ihre Vorliebe für Körperteile, die man normalerweise lieber versteckt hält. Etwa die Zunge.
Aber was ist eigentlich der Grund für ihre Publikumsströme? Wenn sich die Leute schon in ein Museum bewegen, mit ihrem Körper, dann müsse dort auch etwas geboten werden, sagt sie. Erlebnis, Verzauberung, Überwältigung, Verunsicherung, Entgrenzung, Verschmelzung, Kopulation.
Körperöffnungen öffnen sich in ihren Videos den Besucherkörpern. Das ist weit intimer und auf feinere Weise erotischer als beispielsweise eine Aktion wie im Pariser Palais de Tokyo, das am vergangenen Wochenende die Nudisten-Community dazu einlud, nackt das Museum zu besuchen.
Pipilotti Rist ist gegen weissen Räume mit ein paar Vierecken an der Wand. Also konventionelle Museen. Sie hasst weisse Räume. Und Vierecke. Der Fernseher in der «Stube» ist so eins. Eine genormte Fläche für genormte Inhalte mit viel zu viel Plastik drum rum. Müsste man dringend mit Nagellack bemalen und an die Decke hängen, sagt sie. Und wieso sagt sie eigentlich andauernd «Stube»?
Okay, Teller abschlecken und auf dem WC wohnen also. Und sich nicht schämen dafür. Und in den Videos Orgien des Organischen feiern. Pipilotti Rist ist sicher die freiste Frau der Schweiz. Allerdings braucht sie eine Unmenge von Technik, um die glühenden, blühenden Visionen aus ihrem Innern für andere betretbar zu machen. Ist sie eine Technikfetischistin?
Aber gibt es denn überhaupt noch eine Möglichkeit, all die klassischen Museen mit den unbewegten, in Vierecken gefangenen alten Meistern zum Beispiel, für die digitale Gegenwart und Zukunft zu retten? Ein paar versprengte Nudisten können da ja wohl nicht die Lösung sein. Weshalb die Tagung des Kunst Forum Zürichs, an der Pipilotti Rist auftritt, denn auch «Building a Museum for Next Generations» heisst.
Der deutsche Kulturwissenschaftler Wolfgang Ulrich plädiert wie Pipilotti Rist für die totale Auflösung von Räumen und Werken. Und dies explizit auf den sozialen Medien. Jedes medial verbreitete Selfie vor einem Rembrandt setze diesen in einen Kontext, genau so, wie es eine Ausstellung auch tut. Jeder Hashtag sei ein kleiner kuratorischer Akt, jede Community, die erreicht werde, ein weiteres Publikum.
Und wenn es die Menschen müde geworden sind, bloss sich selbst und das Bild im Rahmen zu betrachten, dann wird die statische Kunst zum Ausgangspunkt von Metarmophosen. Dann verflüssigt sich das Werk. Wird in eine App eingeschleust und verwandelt. Mehrere Museen werben für ihre eigenen alten Porträts mit lustigen FaceApp-Varianten.
Die App ConstructKlee dagegen verwandelt restlos alles in ein Kunstwerk à la Paul Klee, egal ob es sich dabei um einen originalen Van Gogh oder um irgendein Foto handelt. Entwickelt wurde sie als Gadget zur grossen Klee-Ausstellung 2018 in der Münchner Pinakothek der Moderne. Aus passiven Konsumenten sollen aktive Produzenten gemacht werden.
Das folgende Bild mit den handyfixierten Schülern im Rijksmuseum in Amsterdam führte in den letzten Jahren immer wieder zu Entrüstungsstürmen unter webphobischen Kulturpessimisten. «It's official – culture is dead», lautete einer der berühmtesten Kommentare, sagt Wolfgang Ulrich.
Immer wieder wurde der Irrtum berichtigt, die Schüler waren nicht mit irgendwas, sondern mit der Museumsapp beschäftigt und informierten sich dort über den Rembrandt, vor dem sie sassen. Egal, gesehen wurden SM-verseuchte Kunstbanausen, die den Untergang abendländischer Kultur vorantrieben.
Es ist nicht absehbar, wohin das führen soll, gerade in Sachen Urheberrecht. Pipilotti Rist nennt die Möglichkeit des Publikums die tausend eigenen Augen, die Erweiterungen unserer Sinne, die Krücken produktiv zu nutzen, vorsichtig «potentiell demokratisch». Wolfgang Ulrich ist radikaler: Erst die digitale Weiterverwertung, sagt er, ist der Erfolg eines Werkes. Womit dann wohl Instagram wichtiger als jedes Museum der Welt sein dürfte.