Leben
Das Beste 2018

Die Telefonkabine verschwindet. Eine Erinnerung zurück.

Streiche, Geld und Zigarettenmief – wie die Telefonzelle meine Kindheit bereicherte

04.09.2018, 19:5321.12.2018, 10:27
Mehr «Leben»

Wann ich zuletzt eine Telefonkabine betreten habe, weiss ich nicht mehr. Als ich aber gestern las, dass es um die kleinen Telefonhäuschen definitiv geschehen ist, wurde ich doch etwas wehmütig. Erinnerungen kochten in mir hoch. Erst nur vereinzelt, dann immer mehr und plötzlich wurde mir bewusst, was für eine zentrale Rolle die Telefonkabine in meiner Kindheit eigentlich gespielt hatte.

Mehr 2018? Hier entlang:

Das Beste 2018
AbonnierenAbonnieren

In meinem kleinen Kuhkaff hatten wir genau eine Telefonzelle, direkt neben der Poststelle, so wie sich das gehörte. Für uns Kinder war das kleine Glashäuschen mit dem Münztelefon das, was die Dorfbeiz für die Pensionäre war: der «Place to be». Dort haben wir uns getroffen, gequasselt und grosse Pläne geschmiedet.

Sehr rudimentäre Photoshop-Rekonstruktion der Poststelle aus meiner Kindheit:

Poststelle
Bild: keystone/watson

Auch war das Münztelefon eine wunderbare Möglichkeit, meine bescheidenen Finanzen etwas aufzubessern. Darum war ein regelmässiger Check des Münz-Rückgabefachs ein fester Bestandteil meiner Wochenroutine. Vielleicht hatte ja jemand sein Rückgeld darin vergessen? War das tatsächlich so, ging es jeweils schnurstracks zum Dorfkiosk, nur um nachher mit dem neuen Süssigkeitenreichtum vor meinen Freunden anzugeben.

Musste ich auf den Schulbus warten, diente mir die Telefonkabine auch als Schutzraum. Wenn es draussen windig und kalt war, habe ich mich jeweils in die nach Zigaretten stinkende Kabine verkrochen, um nicht ganz so schnell zu erfrieren. Dass ich anschliessend selbst gestunken hatte, wie ein heimlich rauchender Teenager, war mir egal.

Zuweilen konnte ich mich aber auch ganz gut darin verbarrikadieren, wenn ich wieder einmal ein paar ältere Mitschüler zu fest geärgert hatte.

Auch als Schutzraum vor den wütenden Tritten meiner Mitschüler leistete der kleine Raum gute Dienste. Vor allem die älteren Mitschüler ärgerte ich ab und an etwas zu fest.

Einer dieser älteren Mitschüler genoss es, vor uns Kleinen mit seinem Telefonkartenwissen anzugeben. Ausführlich hatte er uns jeweils erklärt, wie er sich Guthaben ergaunerte, indem er Nagellack auf die Telefonkarte auftrug. Damals hatten die Karten noch keinen Chip und ich hab bis heute nicht wirklich verstanden, wie das funktioniert. Aber Mensch, war ich beeindruckt! Da hat ein Junge aus unserer Schule die Swisscom übers Ohr gehauen. Das war schon mächtig cool!

Taxcard
https://imgur.com/a/YjtTVF6
Das muss dann wohl so eine Karte gewesen sein. Meine erste Karte hatte dann doch schon einen Chip.Bild: Imgur

Richtig viel Spass hatte ich aber mit der wohl ersten Tastenkombination in meinem noch jungen Leben, die ich auswendig konnte. Damit war es möglich, ein Gratistelefonat mit der Person zu führen, die zuletzt angerufen worden war. Falls vor rund 20 Jahren jemand bei dir angerufen hat und dann einfach kichernd auflegte: Das war vermutlich ich.

Mit der Zeit haben ich und meine Freunde uns dann natürlich immer mehr getraut und angefangen Leute zu veralbern. Das war rückblickend wohl nicht sehr nett – aber ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich daran denke. An eine Begebenheit kann ich mich sogar noch ganz genau erinnern: Eine Frau nahm den Hörer ab und ich hatte einfach nur lautstark Kaugummi gekaut. Das hat sie sich dann einen Moment lang angehört und schliesslich mit dem Satz «scheiss Jugo» genervt aufgelegt.

Schlussendlich hielt die Digital-Technik in unserem Dorf Einzug und die dicken, abgegriffenen Telefonbücher wurden durch ein schwarzes Kästchen mit Tastatur ersetzt.

Ich meine dieses Teil hier:

Telefonzelle Swisscom
Bild: Colourbox

Ich weiss gar nicht, wie oft wir nach der Schule zu diesem Ding geeilt sind. Dann haben wir nach lustigen Namen gesucht und uns kaputt gelacht. Oder nachgeforscht, wie viele «Scherrer» es im Wallis gibt. Oder «Kälin» in Bern.

Dank diesem Ding habe ich auch erfahren, dass es in meinem Kuhkaff eigentlich nur vier Geschlechternamen gibt: Giger, Gätzi, Gubser und Walser – in allen möglichen Kombinationen. Da habe ich das erste Mal gedacht, dass ich irgendwann aus meinem Kaff wegziehen muss. Telefonkabinen gibt es ja schliesslich überall.

Er hat der Telefonkabine den Garaus gemacht: die turbulente Geschichte des Schweizer Mobilfunks:

1 / 40
Die turbulente Geschichte des Schweizer Mobilfunks
«Wo biiisch!?» watson präsentiert Meilensteine der Schweizer Mobilfunk-Geschichte.
quelle: keystone / martin ruetschi
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Auch das Telefonbuch stirbt aus:

Video: srf/SDA SRF

Mehr zum Thema Leben gibt's hier:

Alle Storys anzeigen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
35 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
wipix
04.09.2018 20:57registriert Oktober 2015
In den 80ern:
WK irgendwo im nirgendwo!Meine Kammeraden schlafen im Schulhaus Keller,ich schiebe Telefonwache in einer Telefon Kabine mit meinem ganzen Gepäck und Waffe im Dorf. Am Morgen früh war Verschiebung geplant.
Ich schlief prima eingewickelt im Schlafsack die Türe durch meine Beine ordentlich versperrt.
Dann plötzlich:TocTocToc an der angelaufenen Scheibe!Ich wühlte mich aus dem Schlafsack znd vor der Türe standen:
Eine grosse Gruppe Tamilischen Flüchtlingen, die endlich gerne telefoniert hätten!
Mein Zug über alle Berge, hatten mich schlicht vergessen!
Mit Auto-Stop wieder eingeholt!
1141
Melden
Zum Kommentar
avatar
Roman Stanger
04.09.2018 20:55registriert Februar 2018
Und in Vor-Swisscom-Zeiten natürlich immer mit der unvermeidlichen Aufschrift: "Dänk dra - lüt a!" Und nebst dem Rauchgestank waren von den "Umdreh-Telefonbüchern" immer mindestens zwei komplett rausgerissen und nur noch die traurige Blechhülle vorhanden. Und aus den zerritzten Glasscheiben konnte man sämtliche Spitznamen und sexuellen Vorlieben der lokalen Jugend entziffern ...
940
Melden
Zum Kommentar
avatar
saukaibli
04.09.2018 21:24registriert Februar 2014
Die einzigen Erinnerungen, die ich an die Telefonkabinen habe, ist, dass wir bei schlechtem Wetter immer da rein gingen um zu kiffen. Der erste, der es in der vollgequalmten Kabine nicht mehr aushielt, musste die nächste Tüte drehen. An die bösen Blicke derjenigen, die dann da rein mussten um zu telefonieren, erinnere ich mich auch noch :-D Glücklicherweise konnte man in den 90ern in den meisten Clubs und vielen Pubs kiffen, so dass wir ab 18 nicht mehr auf Telefonkabinen angewiesen waren.
7213
Melden
Zum Kommentar
35
Erster Auftritt nach Kates Krebs-Schock: Prinz William kocht Bolognese

Erstmals seit Bekanntwerden der Krebsdiagnose seiner Frau Kate hat sich Prinz William am Donnerstag wieder in der Öffentlichkeit gezeigt.

Zur Story