Plötzlich legte sich Deutschland aufs Brot. Schmierte und schnippelte sich die Seele aus dem Leib. Auf Twitter. Das Ergebnis war der Bildband «Kunstgeschichte als Brotbelag», herausgegeben von der 31-jährigen Marie Sophie Hingst. Da gab es Claude Monets Seerosenteich, nachgestellt auf einer Scheibe Toast mit Pesto, Frischkäse und Tomatensauce. Das «Mädchen mit dem Perlenohrring» aus Wurst und Birne.
Am 18. Juli 2018 hatte Hingst #KunstGeschichteAlsBrotbelag lanciert, ein Hashtag, der es kurzfristig auf Platz eins der deutschen Twitter-Trends schaffte. Im März 2019 erschien das Buch zum Trend. «Wer Kunstwerke bisher als etwas Heiliges betrachtet hat, auf das man höchstens mit einem ehrfürchtig-wissenden Nicken reagieren darf, muss nun stark sein», schrieb die NZZ. «Von wegen brotlos! Deutschlandweit imitieren Menschen berühmte Werke der Kunstgeschichte als Käsestulle oder Marmeladentoast», jubelte der «Spiegel».
Was war diese Frau Hingst, auf Twitter auch als «Fräulein Read On» bekannt, doch für eine lustige, verspielte, kreative junge Frau! Und das, obwohl sie anderswo, auf ihrem Blog «Read on, my dear, read on» nämlich, seit längerem von der tragischen Holocaust-Vergangenheit ihrer Familie berichtete. Dem Blog folgten 240'000 tief berührte Leserinnen und Leser, 2017 hatte die promovierte Historikerin dafür die Auszeichnung «Bloggerin des Jahres» und 2018 einen Essay-Preis der «Financial Times» erhalten.
Plötzlich gab es Zweifel an ihrer Holocaust-Story. An den 22 Naziopfern, von denen Hingst berichtete und die sie der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem zur Erfassung gemeldet hatte. Eine Gruppe Historiker entdeckte Widersprüche und Fehler und wandte sich an den «Spiegel». Archivare der Stadt Stralsund bestätigten, dass es die 8 angeblich aus Stralsund stammenden Opfer nie gegeben habe.
Der «Spiegel»-Journalist Martin Doerry, dessen Grossmutter in Auschwitz ermordet wurde und der die Briefe an ihre Kinder unter dem Titel «Mein verwundetes Herz» herausgegeben hatte, begab sich auf die Spuren von Marie Sophie Hingst, die seit 2013 in Dublin lebte.
Von 22 Biografien, die Hingst in ihrem Blog regelmässig präsentierte und über die sie gerne auch an Tagungen Vorträge hielt, waren 19 frei erfunden. Und die 3 Menschen, die real existiert hatten, waren weder jüdisch noch in Auschwitz ermordet worden. Ihre Grossmutter etwa war keine Auschwitz-Überlebende, die jedes Jahr mit andern «Auschwitzern» zusammen der Toten gedachte, eine Festivität, während der die Uhren angehalten wurden und für die die kleine Marie Sophie Einladungen verpackt hatte. Die Grossmutter war eine ganz normale, durchschnittliche Protestantin.
Andernorts tritt sie unter dem Pseudonym Sophie oder Marie-Sophie Roznblatt in Erscheinung. «Roznblatt» wird 2017 zu einer prominenten Autorin und Gesprächspartnerin in der «Zeit» und am «Deutschlandradio». Nicht zum Holocaust, sondern zum Thema «Sexunterricht für männliche Flüchtlinge». Ihr «Zeit»-Artikel «DasProblem mit dem Penis» über ihre Arbeit mit jungen Syrern sorgt weitherum für Aufsehen. Und stimmt nicht.
Doerry besucht Hingst in Dublin, konfrontiert sie mit seinen Recherchen, nach einer Stunde bricht sie das Gespräch wütend ab. Er erinnert sich an den Fall Relotius. An den Fall Wilkomirski, jenen Schweizer, der eigentlich Bruno Doesekker hiess und sich 1995 eine jüdische Biografie zusammengedichtet hatte.
Am 31. Mai erhält der irische Journalist Derek Scally eine Vorabmeldung, dass der «Spiegel» tags darauf über die Bloggerin aus Dublin berichten werde. Er sieht, wie Hingsts Blog Stück für Stück gelöscht wird. Wenige Tage nach Erscheinen trifft er sich mit ihr. Nicht in Dublin, sondern am Wannsee bei Berlin, wo der Dichter Heinrich von Kleist im November 1811 erst seine Liebste und dann sich selbst erschoss. Gemeinsam stehen sie vor Kleists Grab.
Sie erzählt auch, wie sie als 16-Jährige ihre Mutter Rachel mit einer Kugel im Kopf in der Badewanne gefunden habe. Und wie sich ihr Leben seit Doerrys Artikel in Luft aufgelöst habe.
Sie macht einen derart verstörten Eindruck, dass er fürchtet, der letzte Mensch zu sein, der sie lebend gesehen haben wird. Hingst erzählt ihm von ihrer Stiefmutter Cornelia Hingst. Scally macht sie ausfindig, ruft sie an, fragt sie nach Hingsts leiblicher Mutter Rachel. Eine Rachel habe es nie gegeben, sagt Cornelia, sie selbst sei die leibliche Mutter. «Meine Tochter hat mehrere Realitäten und ich habe bloss zu einer einzigen Zugang», sagt sie, und dass ihre Tochter seit vielen Jahren mit ihrer geistigen Gesundheit kämpfe und in Irland zu neuer Stabilität gefunden habe.
Cornelia Hingst kümmert sich darum, dass ihre Tochter in Dublin nicht von ihrem Arbeitgeber entlassen wird und psychologische Hilfe erhält. Regelmässig meldet sie sich bei Scally. Am Donnerstag, den 18. Juli allerdings mit der Nachricht, dass die Polizei Marie Sophie tags zuvor tot in ihrem Bett gefunden habe.
Ihren Blog gibt es schon lang nicht mehr. Auch ihr «Zeit»-Artikel wurde gelöscht. Jüdische Organisationen monierten, dass Hingst mit ihren Fake-Biografien das Elend echter Überlebender verhöhnte. Am 31. Juli wird sie in Wittenberg, wo sie aufwuchs, zu Grabe getragen. Nur die «Kunstwerke als Brotbelag» verkaufen sich munter und bleiben als zynische Fratzen über dem Ableben ihrer Erfinderin stehen.