Lange Zeit konnte niemand Netflix etwas anhaben. Der Streaming-Riese ist bei jungen Bevölkerungsschichten wahnsinnig erfolgreich, schiesst eine Serie nach der anderen in unsere Wohnzimmer und zeigt dabei jene neuen Herangehensweisen und Narrative, auf die Zuseherinnen in den späten 2000ern nach Dauerbrennern wie «Two and a Half Men», «Big Bang Theory», «How I Met Your Mother» & Co. gewartet haben.
Zumindest bisher. Denn was nach der Ausstrahlung der sieben Episoden aus «Erkrankt» geschah, ... naja, lest selbst.
Netflix beschreibt die Serie so: Rätselhafte Symptome, umstrittene
Diagnosen, kostspielige Behandlungen:
Eingeordnet werden die sieben von Doc Shop (auch verantwortlich für National Geographic, CNN, Discovery) produzierten Episoden unter «Reality-, Varieté- und Talkshows».
Prädikat: bewegend.
Die erste Red Flag in seriösem Produzentenvokabular.
Kamerateams begleiten sieben Patienten bei der verzweifelten Suche nach möglichen Heilungsmöglichkeiten für bislang kaum bis wenig erforschte Krankheiten.
Carmens Symptome werden beispielsweise von WLAN und Strom
ausgelöst – sie leidet an Elektro-Hyper-Sensitivitiy. Bekah, Musikerin und
Tattoo-Artist aus New York, hat neben einer chronischen Schimmelpilzallergie
drei Blutinfektionen (Babesia, Bartonella und Rickettsia), eine
Staphylokokkeninfektion in Nase, Gehirn und Herz, weswegen sie mit ihrem Freund
in einem Van in der Wüste lebt. Dort möchte sie sich einer Ozontherapie unterziehen.
Passend zu ihrem Äusseren wird Bekah von Netflix sofort als seltsame Künstlerin inszeniert: Sie ist die Hexe, eine
Hellseherin.
Auch während des Trailers fällt auf, dass Netflix die Worte der Patienten reisserisch aus dem Kontext nimmt, um Spannung zu erzeugen: «Es ist, als hätte man eine Waffe im Mund, und man schreit und jemand sagt: Nein du hast keine Waffe im Mund, hör auf zu schreien.»
Die gezeigten Bildausschnitte sind dunkel, dramatisch und wirken auf eine
skurrile Weise gefährlich.
Selbst mit grossem Wohlwollen fällt es Zusehern schwer, den Patienten ihre Krankheiten abzunehmen. Elektro-Hypersensitivität? Eine reiche Frau, die an «unsichtbaren organischen Krankheiten» leidet und sich jede Woche zahlreichen kostspieligen Untersuchungen unterzieht – obwohl sie nach aussen hin topfit scheint?
Schnell fällt der Anschein, die Erkrankten hätten schlicht psychische Probleme, da – wie wir später herausfinden werden – essentielle Teile des Filmmaterials weggelassen wurden, und die Patienten damit genau der Lächerlichkeit aussetzen, die sie bekämpfen, um ernstgenommen zu werden.
Unmittelbares Feedback zur Serie unterstellte den Protagonisten, dass sie nicht akzeptieren könnten, seelische Hilfe zu brauchen. Dabei sind die meisten von ihnen irgendwann an Psychiater verwiesen worden. Dies geschieht häufig bei Patienten, deren physische Leiden nicht diagnostiziert werden können.
Auf der Online-Publishing-Plattform Medium melden sich die Geschädigten erstmals gemeinsam zu Wort.
Auszug aus: The Truth Behind Netflix's «Afflicted»
«Uns wurde gesagt, dass wir an einem Projekt teilnehmen würden, das unseren Kampf mit der Krankheit durch eine ‹mitfühlende Linse› zeigen würde. Wir haben teilgenommen, weil unsere Diagnosen missverstanden und stigmatisiert werden. Wir dachten, dass das Aufdecken einiger der intimsten Momente zu mehr Verständnis in der Öffentlichkeit führen würde. Wir hofften, dass damit auch Investitionen in die Forschung zur Suche nach Biomarkern und besseren Therapien einhergehen würden.
Der gravierendste Fehler von ‹Erkrankt› ist die Art und Weise, wie es
unsere Verfassung – die Millionen von Menschen auf der ganzen Welt betreffen –
als psychosomatische oder psychiatrische Störungen gestaltet. Dies geschieht
zum Teil durch den sorgfältigen Ausschluss von Fakten.
Unsere eigenen Ärzte wurden während des Filmens nicht konsultiert. Sogar unsere eigenen Bedenken über einige der alternativen Behandlungsmethoden, die wir angebracht hatten (manchmal mit der Hilfe oder dem Vorschlag der Produktionsfirma) wurden sorgfältig herausgeschnitten. Alles nur, um eine möglichst sensationsgeile Erzählweise zu erreichen.»
Jill, die an unsichtbaren organischen Krankheiten leidet, wurde belästigt, kritisiert und in Frage gestellt. Einige Leute denken jetzt, dass sie keine praktizierende Therapeutin mehr sein sollte. «Ich trage Perlen mit meinem Ramones-T-Shirt zur Arbeit und umarme meine Kunden, wenn sie fragen. Ich bin leidenschaftlich und schrullig, aber ich bin nicht geisteskrank oder instabil», sagt sie.
Bekah bekam E-Mails von Menschen, die ebenfalls an einer
Schimmelpilzallergie leiden und nun dank Netflix unter dem Eindruck standen,
dass die Ozontherapie nicht geholfen hat. Das sei «nicht wahr und ein weiteres
Beispiel dafür, wie dieser Film der chronisch kranken Gemeinschaft einen
schlechten Dienst erweist.»
Die Bearbeitung
war nach ihren eigenen Aussagen «geradezu unethisch und schädlich, ganz zu
schweigen von der völligen Unkenntnis der Krankheiten.» Das ganze Spektakel lässt sich auch auf Twitter nachlesen.
Auf «Medium» sind die Eindrücke der sieben Geschädigten in aller Ausführlichkeit nachzulesen. Besonders die Worte von Jesse Bercowetz – Bekahs Partner – sind deutlich:
«Als wir Peter, den ausführenden Produzenten von ‹Erkrankt›, das erste Mal getroffen haben, nahm ich ihn zur Seite und (...) fragte ihn: Wird das wieder eine dieser Sendungen, wo man Personen mit chronischen Erkrankungen Ärzten gegenüberstellt, die skeptisch sind? Das ist eine ermüdende Praktik und wir haben kein Interesse diese zu unterstützen.
Er fuhr fort und sagte, dass Bekah die Chance bekäme, ihre Geschichte zu erzählen.
Letztendlich wären wir das Kunstpärchen, das in einem Van lebt. Mit dem im Hinterkopf waren wir transparent: Wir haben ihnen alles gegeben, unsere Leben für sie geöffnet. Filmen war zermürbend. Am Ende des Tages fühlte sich Bekah noch mehr ausgelaugt und krank als sonst. Sie machte weiter, weil sie daran glaubte, dass sie ihre Geschichte an die Öffentlichkeit tragen würden und dass es anderen Leuten, die auch leiden, helfe.»
Studien legen nahe, dass das, was den Körper stört, auch den Geist stört, und umgekehrt. Was nicht gleichbedeutend mit der Aussage ist, dass alle chronischen Krankheiten psychosomatisch oder das Ergebnis hypochondrischer Tendenzen sind.
Der
Schaden jedenfalls ist geschehen. Netflix, grösste Hoffnung im
Entertainment-Sektor, hat richtig Scheisse gebaut. Inzwischen hat es auch den Anschein, dass Netflix den Trailer zur Serie aus seinem offiziellen YouTube-Kanal entfernt hat. Auch auf anderen YouTube-Kanälen ist der Trailer kaum auffindbar.