Im Laufe der Jahrzehnte wurde immer wieder der Untergang des Kinos prophezeit. Das begann bereits in den 40er-Jahren mit dem Aufkommen des Fernsehens.
Natürlich sahen das die Filmproduzenten Hollywoods stets anders. Bereits 1946 war sich Darryl F. Zanuck, damals Studioboss von 20th Century Fox, sicher, dass das Kino nicht verschwinden würde, das Fernsehen hingegen schon:
Zwar hat sich Zanuck bei seiner Prognose über das Fernsehen fundamental geirrt, doch behielt er wenigstens dahingehend recht, als dass das Kino nicht verschwand. Vielmehr hatte uns Hollywood in den darauffolgenden Jahrzehnten unzählige, geliebte Filmklassiker geschenkt. Dagegen waren Fernsehfilme höchstens seichte Nachmittagsunterhaltung.
Doch nun sieht sich das Kino mit seinem bisher wohl grössten Konkurrenten konfrontiert: dem Streaming. Allein 2018 investiert Netflix acht Milliarden US-Dollar in Eigenproduktionen, um die über 120 Millionen Abonnenten zu unterhalten. Auch Amazon oder Sky geben Milliardenbeträge aus und beweisen mit immer hochwertigeren Produktionen, dass man für handwerklich tolle Filme nicht mehr ins Kino muss.
Schaut man sich die Abo-Zahlen der Streaming-Dienste an, müsste man meinen, dass das letzte Stündlein Hollywoods bald geschlagen hat. Tatsächlich aber blieben die Besucherzahlen der Kinos in den letzten Jahren stabil. Selbst die Schweizer Bevölkerung, die nicht als sehr kinobegeistert gilt, ging nicht signifikant weniger ins Kino.
Dass sich die Zuschauerzahlen in den letzten Jahren trotz grosser Streaming-Angebote nicht verringert haben, liegt vor allem daran, dass Hollywood auf eine Strategie setzt, die bereits in anderen Branchen funktioniert: Nostalgie.
Wohl noch nie wurden so viele Remakes, Reboots und Fortsetzungen gedreht, wie im aktuellen Jahrzehnt. Altstars werden reaktiviert, alte Filmreihen fortgesetzt und Klassiker neu aufgelegt. Ein paar Beispiele gefällig?
Disney bringt seine ganzen Trickfilmklassiker als Realfilme.
Universal lässt alte Filmmonster wie Dracula, die Mumie oder Frankensteins Braut in einem eigenen Filmuniversum wiederauferstehen.
Und gefühlt jeder Klassiker der 80er- und 90er-Jahre kriegt plötzlich eine Fortsetzung.
Die Taktik ist klar: Nichts riskieren, lieber auf Nummer sicher gehen. Im Zeitalter des Streamings, aber auch von YouTube und Instagram, kann es sich kein Filmstudio mehr leisten, zu experimentieren. Zu gross ist das Risiko, gleich mehrere Flops zu landen. Filmenthusiasten kritisieren das schon lange und unterstellen Hollywood den kreativen Tod. Doch schlussendlich ist Geld der Motor, der Hollywood antreibt und so ist nur ein voller Kinosaal ein guter Kinosaal.
Dass diese Taktik aufgeht, zeigen die Statistiken. In der Liste der erfolgreichsten Kinofilme aller Zeiten kommt der erste Film, der nicht auf einer Vorlage basiert, erst auf Platz 37. Es ist «Der König der Löwen» von 1994.
Auch ansonsten zeigen die Statistiken klar: Remakes, Adaptionen, Fortsetzungen und Reboots funktionieren. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das ist beim Kino nicht anders.
Dank den Megablockbustern können sich die Kinos zwar über Wasser halten, doch die erzählerische Innovation verschiebt sich immer mehr in Richtung der Streaming-Dienste.
Filmschaffende, die uns früher mit raffinierten Geschichten in Wort und Bild zum Staunen brachten, haben in der neuen Realität von Hollywood keinen Platz mehr. Das jüngste Beispiel ist Regisseur Martin Scorsese: Obwohl er Klassiker wie «Good Fellas» oder «Taxi Driver» gedreht hat, stiess er bei Hollywood zuletzt auf taube Ohren. Acht Jahre lang hat er ein Studio von seinem Herzensprojekt «The Irishman» überzeugen wollen – ohne Erfolg. Zu gross erschien ihnen das finanzielle Risiko, vor allem, nachdem Scorseses letzter Film «Silence» ein Flop war. Dabei basiert «The Irishman» sogar auf einem Roman.
Netflix sprang gerne ein, stellte dem Altmeister ein gigantisches Budget von 140 Millionen zur Verfügung und liess ihm absolute kreative Freiheit. Im Dezember 2018 werden wir das Ergebnis auf Netflix sehen.
Auch Woody Allen hat mit «Wonder Wheel» bereits einen Film für einen Streaming-Dienst gedreht. Es hat fast den Anschein, als hätten Regisseure und Regisseurinnen ausserhalb der Blockbuster-Schablone bald nur noch eine Möglichkeit, Filme mit einem anständigen Budget zu drehen: Streaming-Dienste.
Im Moment funktioniert die ganze Retro-Kiste für die Filmstudios wunderbar. Allerdings stellt sich natürlich die Frage, wie lange das Interesse an Superhelden und Altbekanntem noch anhält. Und dabei ist das noch nicht einmal das grösste Problem.
Streaming-Dienste fangen an, die Nischen zu bedienen, welche den Filmstudios zu riskant sind. 2017 veröffentlichte Netflix mit «Bright» einen Film, der den harten Alltag eines Polizisten mit der Fantasiewelt von Märchen und Orks vermischte. Obwohl die Kritiken eher negativ ausfielen, war der Film bei der Zielgruppe ein voller Erfolg.
Die Streaming-Dienste haben hier einen grossen Vorteil: Dank der riesigen Menge an Userdaten, wissen sie sehr genau, was ihre Zuschauer sehen wollen. Damit können sie Nischenfilme produzieren, weil sie wissen, wie gross ihr Publikum dafür ist. Währenddessen muss Hollywood auf Stoffe setzen, die möglichst universal kompatibel sind, in der Hoffnung, dass dann jemand ins Kino geht.
Während die Studios auf Nostalgie setzten, versuchen die Kinobetreiber, das Wohnzimmer der Zuschauer zu konkurrieren. Kinosäle werden zu regelrechten Luxustempeln umgebaut, die mit gemütlichen Sitzen, Loungen und extragrossen Leinwänden locken. Streamen im Wohnzimmer soll zum unbequemen Filmerlebnis degradiert werden, während der Kinobesuch zu einem regelrechten Event stilisiert wird.
Verschwinden wird das Kino vorläufig sicher nicht, ansonsten wären die Besucherzahlen der letzten Jahre nicht so stabil. Wer Kino mag, wird auch in Zukunft ab und an einen Film im Lichtspielhaus schauen. Und auch alle, die ihre alten Helden noch einmal auf der grossen Leinwand sehen möchten, werden sich ins Kino locken lassen. Doch stellt sich die Frage, was passiert, wenn die Generation erwachsen geworden ist, deren Filmklassiker von Netflix, Amazon und Co. produziert wurden.