Hipster hiessen früher Hippies. Früher, das war in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Jutebeutel waren Reiserucksäcke mit 60-Liter-Volumen und ihr Craft Beer hiess Haschisch. Ihren Veganismus nannten sie Pazifismus und ihr Netzwerk kam in Form eines Restaurants daher: dem Pudding Shop in Istanbul.
Aber mehr dazu später. Graben wir uns zunächst zur Wurzel des Reisephänomens hinab und beginnen bei den Anfängen der ersten touristischen Überlandsreisen.
Vor 60 Sommern kam der Wind des hedonistischen Reisens bei jungen Europäern auf. The Indiaman war der erste Pauschalreise-Anbieter, der Touristen geführt über die Seidenstrasse transportierte. Von London nach Bombay in vier Wochen.
Während der Mittfünfziger wurde das Bereisen anderer Kontinente und das Entdecken ferner Kulturen zur Mode junger Menschen. In Magazinen, Zeitungen und Büchern las man von Entdeckern, Draufgängern, reichen Leuten oder gesponserten Studenten, die aus irgendeinem Grund die Chance kriegten, nach Afrika, Indien oder Japan zu reisen. Wieso genau wusste man nie, aber sie alle kamen spätestens nach ihrer Rückkehr nicht mehr aus dem Schwärmen heraus.
Wie die vier Pfadi-Jungs in «Mein Name ist Eugen», die ihrem Lausbubenidol Fritz Bühler nachjagten, taten es bald viele junge Europäer gleich. Sie reisten auf der Route, die ihnen Abenteurer und Forscher in Büchern und anderen Publikationen sprachlich skizzierten. Zusammenhängend mit dem Fakt, dass solch eine Bustour auf einmal relativ erschwinglich wurde, ergab sich Anfang der 60er ein kleiner Hype. Bustouren-Anbieter schossen aus dem Boden und bald war «The Indiaman» nicht mehr der einzige Erlebnisanbieter in Westeuropa.
Die ersten Überlandreisenden hatten noch keine langen Haare auf dem Kopf und keine Blümchen-Aufnäher an ihrer Kleidung. Erst als grosse Ikonen wie die Beatles, Janis Joplin oder Jimi Hendrix den magischen Osten für sich entdeckten, machten sich auch vermehrt deren Jüngerinnen und Jünger auf den Weg in die Ferne; hoffend darauf, spirituelle Selbstfindung, Freiheit und Marihuana zu finden.
Um der Individualität so richtig zu frönen, verzichteten die wilden Blumenkinder meistens auf pauschale Bustransport-Angebote. Viele reisten mit dem Zug, per Anhalter oder in kleinen Fahrgemeinschaften. Letzteres führte schliesslich zur Geburt des Hippie-Büslis.
Bis Istanbul funktionierte jegliche Form der reisenden Fortbewegung. Alle kamen an. Doch am Bosporus, der Pforte zum asiatischen Kontinent, fing das eigentliche Abenteuer erst wirklich an. Von hier an waren die Strassenschilder nicht mehr immer lesbar, wenn es überhaupt welche gab. Denn den meisten Strassen, auf denen man unterwegs war, wurde der Begriff Strasse nicht wirklich gerecht; es waren Pisten.
Dem einen oder der anderen wurde erst hier bewusst, auf was für ein Abenteuer er sich eigentlich eingelassen hatte.
Doch das Anschlagbrett in einem Restaurant, das eine überraschende Vielzahl an Puddings anbot, wusch die Sorgen aller vom Fremden eingeschüchterten Seelen hinweg. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wurde dieses Lokal, das sich eigentlich Lale nannte, zu einer extrem wichtigen Schlüsselstelle des Hippie-Trails. Da sich niemand an den richtigen Namen erinnern konnte (man besuchte schliesslich viele Lokale auf der Durchreise), begann man es als den Ort in Istanbul zu bezeichnen, wo es die leckeren Puddings gab. Der Pudding Shop also.
Die Pinnwand, die in diesem «Restaurant» hing, war das damalige Facebook, Tripadvisor und Couchsurfer – alles in einem. Zurückgereiste schwärmen von traumhaften Stränden in Südindien, von verlassenen Bergtälern im Iran, vom besten Hasch aus Kabul und den Vibes in Kathmandu. Einige haben ihre Karten zurückgelassen, individualisiert mit Markierungen von den eindrücklichsten Orten, die sie gesehen haben.
Guckt man sich die ungefähre Route des Hippie-Trails an, fällt schnell auf, dass es wohl nicht nur die Beatles und Janis Joplin waren, die Massen von jungen Menschen aus dem Westen (nicht nur von Europa, sondern auch aus den USA, Kanada und Australien) auf jene Fährte führten.
Es handelt sich bestimmt nicht um einen Zufall, dass die Strecke all den grossen Produktionsländern von Haschisch folgt. Es scheint, als wollten die jungen Blumenkinder der 60er und 70er-Jahre nicht nur sich selbst, sondern auch den Hintergrund der Droge finden, die sie in wenigen Zügen in andere Sphären zu katapultieren vermochte.
1972 ersetzte ein kleines Büchlein, geschrieben von einem britischen Ehepaar auf der Durchreise von London nach Singapur, die Pinnwand im türkischen Imbiss-Schuppen. «Across Asia on the Cheap» nannten Maureen und Tony Wheeler ihren Reiseführer. Darin erzählten sie, wo in welcher Stadt grosse Sammeltaxis stehen, mit denen man für wenig Geld hunderte Kilometer weit reisen kann, oder wo man vor der Durchquerung des Irans noch sein letztes Säckchen Gras herkriegt.
In anderen Kapitel erklären sie, wie man auf Reisen seine Wäsche waschen soll oder wie man mit Blutspenden gutes Geld verdienen kann, wenn man pleite ist.
Mit den Tipps und Tricks der Eheleute Wheeler reisten Tausende durch den Iran, durch Afghanistan, Pakistan, Indien und Nepal. Manche mehr, andere weniger strikt der direktesten Route entlang. Im Winter pilgerten die meisten zu den warmen Stränden Goas, im Sommer galt Kathmandu als Hotspot. Manche suchten den Kontakt zur einheimischen Kultur, liessen sich von Yoga-Meistern schulen oder lernten die hinduistische Sternkunde kennen. Die meisten aber blieben unter den anderen Reisenden, die sie unterwegs kennengelernt hatten. Ein paar Monate lang, vielleicht ein Jahr, bis sie wieder in die Heimat zurückkehrten.
So ging das, bis 1979 der Krieg über die von den Hippies als Orte des unendlichen Friedens wahrgenommenen Länder hereinbrach.
Mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan und dem Ersten Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran war Schluss mit der Reisefreiheit: Afghanistan und der Iran schlossen ihre Grenzen. In Kabul tanzten nun schlagartig keine langhaarigen Jungs mit weiten Jeans und runden Sonnenbrillen mehr durch die Strassen. Sie wurden abgelöst von uniformierten Kämpfern.
Gleichzeitig ermattet das Wirtschaftswachstum im Westen. Wer einen Job hatte, gab diesen nicht mehr so schnell auf. Auf jeden Fall nicht für ein bisschen Selbstfindung. Im Zuge dieser Entwicklung lösten sich die alten Hotspots entlang des Hippie-Trails auf. Alternative Hostels gingen bankrott, und die einst verlassenen Strände, an deren Unberührtheit sich die Blumenkinder fast ein ganzes Jahrzehnt lang erfreuten, entlebten sich aufs Neue.
Und der Pudding Shop in Istanbul? Aus ihm wurde ein Restaurant, das statt primitiver Reisekommunikation eine Speisekarte mit Bildern anstelle von Worten anbietet.
Aber jetzt schnell wieder zurück zur Nostalgie: