Tokyo, an einem bewölkten Sonntagnachmittag der frühen 90er. Das Durchkommen ist schwer auf der kleinen Brücke, die den Bahnhof Harajuku mit dem Yoyogi-Stadtpark verbindet. J-Rock-Bands spielen einen Mix aus Linkin Park, Queen und Patent-Ochsner-Balladen. Zu Tausenden flanieren junge Menschen durch das Klang- und Farbgemenge. Sie tragen pastellrote Kleidchen und leuchtende Plateau-Schuhe – kombiniert mit traditionellen Kimonos und amerikanischen Lederjacken.
Mittendrin steht Shoichi Aoki. Der gebürtige Japaner wanderte in den 80ern nach London aus, wo er nebst seinem Hauptberuf als Informatiker anfing, Punker und Metalheads zu fotografieren.
Als er 1985 nach Tokyo zurückkehrte, gab er das «STREET Magazine» heraus – in der Absicht, der japanischen Jugend einen Einblick in die radikale Art der europäischen Streetfashion zu verschaffen.
Doch während er da so stand, an diesem Sonntagnachmittag, realisierte er, dass den Japanern Europa nicht näher gebracht werden müsse – viel wichtiger sei es, den Europäern das skurrile Japan zu zeigen.
Im Juli 1997 war es dann so weit. Die erste Ausgabe «FRUiTS» wurde publiziert. Aoki schickt die Bilder der «Harajuku-Kids» in die Welt hinaus und klärt den einheitsliebenden Westen bildlich über die Mehrdimensionalität japanischer Alltagsmode auf.
Die ersten Models, die das Cover des Magazins zierten, waren androgyn aussehende Teenie-Punks. Ein Look, der heute kaum zu irritieren vermag, damals aber als rebellisch und bahnbrechend galt.
Während wir hierzulande die Highschool-Looks von Britney Spears mit Jeansrock, Leggins und Turnschuhen aus dem Grosshandel zu kopieren versuchten, brachte das Harajuku-Quartier eine Reihe einzigartiger und kontroverser Stilrichtungen hervor. Und das «FRUiTS» dokumentierte deren Auf- und Abschwellen in 233 Hochglanz-Heften über 20 Jahre lang.
Tokyo, Bahnhof Harajuku, an einem Sonntagnachmittag im Januar 2017. Immer noch spazieren Unmengen von Leuten über die kleine Brücke zum Yoyogi-Stadtpark. Ihre Kleidung ist noch immer bunter und schriller, als man sie in einer europäischen oder amerikanischen Grossstadt sehen würde.
Doch Shoichi Aoki ist nicht mehr beeindruckt. Gegenüber der japanischen Modezeitung Fashionsnap meint er:
Die Leute tragen Plastiktaschen internationaler Grossanbieter in den Händen, die sie aus einer der riesigen Shoppingmalls ums Eck ergattert haben. Sie schiessen Selfies von sich im «Taylor Swift Look» und denken, sie seien speziell. Niemand hier würde sich mehr aus Leidenschaft kleiden, beteuert der Fotograf im Interview. Niemand huldigt mehr dem alten Slogan «Style against Conformity».
Die Zeiten der kontroversen Harajuku-Kids sind gezählt. Aoki stellt das «FRUiTS»-Magazin ein und überlässt die Dokumentation des japanischen Streetstyles den sozialen Netzwerken.