Bissige Versagensängste und sehnsüchtige Zukunftsvisionen. Kein Genre schafft es, die gespaltenen Gefühlswelten heranwachsender Seelen so fassbar einzufangen wie «Coming of Age»-Produktionen.
Weil für junge Menschen (und gefühlsmässig auch für viele ältere Menschen) das Jahr eigentlich nicht im Januar, sondern eher im nach Sommerende beginnt, wollen wir uns gerade jetzt dieser Filmgattung widmen. Wir stellen sieben Filme und Serien vor, die selbst den vermeintlich Ausgelernten und Ausgewachsenen zeigen, dass die eigene Entwicklung nie fertig ist und dass Sehnsucht, Versagensangst und Weltschmerz keine Altersgrenze kennen.
Die Netflix-Serie «On my Block» folgt dem Leben von vier Freunden, die gerade ihre Highschool-Zeit beginnen. Sie spielt in einem Stadtteil von Los Angeles, der das Gegenteil zum sonst so glamourösen L.A. darstellt. Wir folgen den typischen Alltagsdramen junger Erwachsener: Sex, Drogen, Freundschaft und Romantik. Und wir lernen dabei, wie eng jene Aspekte mit den sozialen Verhältnissen zusammenhängen, in die ein Mensch hineingeboren wird.
«Alle Farben des Lebens» ist ein Film über den Transitionsprozess von Ray, einem 16-jährigen Transjungen. Ray wohnt zusammen mit seiner Mutter, seiner lesbischen Grossmutter und deren Partnerin. Die Stärke des Films liegt darin, dass Rays Transition nicht nur in einem körperlichen, sondern auch in einem gesellschaftlichen Sinn porträtiert wird.
Dabei werden etwa den Schwierigkeiten, welche die Grossmutter mit Rays Geschlechtsidentiät hat, viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie findet, es reiche doch, wenn Ray einfach als Lesbe statt als Transmann durch die Welt spazieren würde. Solche Aussagen stehen stellvertretend für die Überforderung, welche unter anderem ältere Generationen mit der immer mehr sichtbar werdenden Transgender-Thematik entwickeln. Der Film geht auf jene Überforderung rücksichtsvoll ein und bleibt dennoch eine sture Forderung für Akzeptanz und Respekt. Der englische Originaltitel lautet dementsprechend «3 Generations».
Der Film geriet allerdings dafür in Kritik, dass Ray nicht von einer Transperson, sondern von einer Cis-Frau gespielt wird. Viele Stimmen aus der internationalen Transgender-Bewegung fordern, dass die verfilmten Geschichte über Transmenschen auch konsequent von Transmenschen gespielt werden sollen.
Die Netflix-Serie «Dear White People» greift aktuelle Debatten rund um alltäglichen und strukturellen Rassismus auf und verpackt sie ins Leben der Studis eines US-amerikanischen Campus'. In der Protagonistinnen-Rolle ist die Studentin Samantha White, die in einer Campus-Radiosendung ihren weissen Kommilitonen den Spiegel vors Gesicht halten will.
Sie sagt, was niemand hören will, der von sich selbst glaubt, nicht rassistisch zu sein. Denn ihre Hauptaussage bleibt stets: Die ganze Welt ist rassistisch. Man kann sich nicht einfach dazu entscheiden, nicht rassistisch zu sein. Das gehe nicht so einfach. Um Rassismus abzuschaffen, müsse man sich intensiv mit allen möglichen sozialen Fragen auseinander setzen. Und das kann ein ganzes Leben lang dauern.
Samanthas Hingabe für einen politischen Kampf macht den ordinären Kampf, den eine junge Erwachsene am College auszutragen hat, nicht einfacher, aber auf jeden Fall interessant und aufschlussreich zum Zuschauen. Ihrem Liebes-, Sex- und Bildungsleben folgend, lernen die Zuschauer, dass die Grenzen von Privatem und Politischem immer verschwommener werden.
Er ist ein Psychopath. Und sie eine theatralische Depro-Revoluzzerin. Gemeinsam stehlen sie ein Auto und hauen ab. Zu unserem Glück! Denn durch ihren Ausbruch kriegen wir ein absolut schrilles Serien-Amüsement, bei dem man nie genau weiss, ob man sich gerade einen Thriller oder doch eine Komödie reinzieht.
Und obwohl die beiden Hauptcharaktere höllisch nerven können, kann man sich nicht davor drücken, Sympathien für die beiden zu entwicklen. Ihre von Sehnsucht getriebene Reise, die trotz augenscheinlicher Ausweglosigkeit immer weiter geht, erinnert zu sehr an die eigenen Träume, als dass man die beiden nicht zu lieben lernt.
«Boyhood» zeigt das Wachsen einer Familie während 12 Jahren. Und genauso lange dauerten auch die Dreharbeiten für dieses «Coming of Age»-Drama. Die Schauspieler blieben während der ganzen Zeit dieselben, was den Film zu einem einzigartigen Erlebnis macht. «Boyhood» fängt das Leben auf eine derart wahrhaftige und zugängliche Weise ein, dass er trotz der Aufregung und all der Dramen, die darin vorkommen, eine unendliche Ruhe versprüht.
Die zentralen Figuren sind die allein erziehende Mutter Olivia und ihre zwei Kinder Mason und Samantha. Olivia sieht sich gezwungen, ein Studium zu beginnen, um einen besseren Job zu kriegen, der die Zukunft ihrer Kinder sichert. Nach mehreren Umzügen, der Bildung zweier Patchwork-Familien, Pubertät und Prekariat sehen sich Mason und Samantha als Erwachsene, die vom Leben gezeichnet sind. Nicht mehr und nicht weniger – doch in voller Detailtreue.
«Lady Bird» ist ein Film, der das Herz eines jeden «Coming of Age»-Fans höher schlagen lässt. Denn darin ist alles enthalten, was eine gute «Teenager will die Welt verändern»-Story so braucht: Eine extrovertierte Gymnasiastin, eine streng katholische Schule, spiessige Eltern und der Wunsch, auf irgendeiner Uni irgendetwas mit Kunst zu studieren.
Christine, die sich selbst den Namen «Lady Bird» gegeben hat, bietet uns massenhaft Material zur Selbstidentifikation. Zum Beispiel das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Christine mit gut gemeinten, aber völlig verfehlten Ratschlägen überhäuft. Oder der unerlässliche Drang, die Provinz zu verlassen und die damit verbundene Glorifizierung der Grossstadt.
«Lady Bird» schöpft aus dem Allgemeinen, aus bereits bekanntem Material, eine rührende Geschichte über das Umkrempeln des Lebens.
Zum Schluss eine Perle des modernen Schweizer Films. «Blue My Mind» ist ein abgefahrenes Pubertätsdrama. Aus Frust isst ein Mädchen einen orangefarbenen Fisch aus dem Auquarium einer ultra sterilen Mittelklasswohnung. Sie wird sexsüchtig, schnippelt sich Schwimmhäute zwischen den Zehen weg und geht auf Drogen ins Conny-Land. Ein Film der bis auf den Grund der unendlichen Gefühlsschlucht erwachsen werdender Menschen blickt.