Die befürchtete Schockstarre bleibt aus. Obwohl ich gerade meinem grössten Filmhelden gegenübersitze: Ethan Hawke, der Star von mehr als siebzig Hollywoodfilmen. Doch als der 47-jährige Schauspieler gleich zu Beginn unseres Gesprächs seine Schuhe auszieht, um gedankenverloren an seinem rechten grossen Zeh zu knübeln, setzt bei mir ein Gefühl der angenehmen Vertrautheit ein. Ethan Hawke hat eine beruhigende Präsenz. Und in den folgenden knapp zwanzig Minuten verrät er alles über seine Liebe zum Plappern, über seinen neuen Kinofilm «Blaze», aber auch über jenen Film, mit dem für mich alles angefangen hat.
Ethan Hawke, ich muss mich bei Ihnen bedanken: Sie sind der Grund, warum ich Filmkritiker geworden bin.
Ethan Hawke: Wirklich?
Genau genommen ist einer Ihrer Filme daran Schuld: «Gattaca». Den habe ich 1997 mit meinen Freunden im Kino geschaut. Ich habe ihn geliebt, sie fanden ihn doof. Unfassbar! In mir drin entstand dann so etwas wie ein Bedürfnis, meinen Freunden den Film zu erklären.
Deswegen ist Ihre Arbeit unerlässlich für meine Arbeit. Ich weiss noch, wie schwierig es war, auch nur irgendjemanden für «Gattaca» zu begeistern, als der Film damals in den Kinos lief. Er war nicht hip, er war nicht die Art von Science-Fiction-Film, die viele wohl erwartet hatten. Einigen war er zu smart, anderen war er zu langsam.
Ich höre heute noch den wunderschönen Filmsoundtrack von Michael Nyman.
Die Musik ist brilliant, und auch das Setdesign! Wir hatten für «Gattaca» so wenig Mittel, eigentlich ist es unglaublich, wieviel wir damit erreicht haben.
Das könnte man auch über Ihren neuen Film «Blaze» sagen. Sie haben mit einem kleinen Budget einen tollen Film über den weitgehend unbekannten Countrymusiker Blaze Foley gedreht. Warum gerade über ihn?
Seine Unbekanntheit ist genau das, was mich gereizt hat. Wenn man einen Film über Ray Charles oder Johnny Cash macht, dann macht man einen Film über Ausnahmekönner. Ihre Biografien sind verzaubert, wie aus einem Traum. In Blaze Foley dagegen spiegelt sich das Schicksal vieler Menschen. Ich kenne unzählige Künstler, die nie berühmt wurden, obwohl auch sie ihr ganzes Leben der Musik, der Kunst und der Poesie verschrieben hatten. Blaze Foley war ein Mensch, der vergessen ging. Und er spielte seine Musik vornehmlich in Bars für andere Menschen, die vergessen gegangen waren.
Im Film zeigen Sie, dass sich Blaze Foley während seiner Konzerte ständig mit dem Publikum unterhielt. Er war ein grossartiger Geschichtenerzähler.
Das war er tatsächlich. Ich weiss noch, als ich zum ersten Mal Aufnahmen seiner Live-Konzerte hörte. Zwischen den Songs hat er manchmal minutenlang ausschweifend vor sich hin gelabert. Ich fand das wahnsinnig charmant. Und ich konnte mich damit identifizieren. Auch ich bin ein Mann der langatmigen Reden. Ich kann stundenlang schwatzen und schwatzen.
Sie sind ja berühmt für Filme, in denen extrem viel gesprochen wird. Das beste Beispiel ist die «Before Sunrise»-Trilogie von Richard Linklater mit den nie endenden Dialogen. Wie stark hat Linklaters Stil eigentlich Ihre Arbeit an «Blaze» beeinflusst?
Ricks Filmstil ist inzwischen Teil meiner DNA. Wir haben acht Filme zusammen gemacht. Ich habe von ihm gelernt, wie man im Kino eine originelle Geschichte erzählt. Rick ist wie ein grosser Bruder, er hat mich immer angetrieben. Ich fragte mich: Warum ist er so viel klüger als ich, obwohl er nur ein paar Jahre älter ist als ich? Bei einem Regisseur wie Peter Weir, der dreissig Jahre älter ist als ich, stellte ich mir diese Frage nie.
In Peter Weirs «Dead Poets Society» feierten Sie 1989 Ihren Durchbruch als Schauspieler. Stimmt es, dass Sie die Rolle des schüchternen Internatsschülers gar nicht spielen wollten?
Es war so: Ich wollte eigentlich nicht den schüchternen Todd spielen, sondern Neil, den Jungen, der am Ende des Films Suizid begeht. Neil war gesellig und forsch, genau wie ich. Doch Regisseur Peter Weir erklärte mir etwas, das ich nie vergessen werde: «Always cast for the final colour» – caste eine Rolle immer auf den Schluss hin. Todd packt in der letzten Szene seinen ganzen Mut zusammen, als er für seinen entlassenen Lehrer auf den Tisch steht und «Oh captain, my captain» ruft. In dieser Szene kommt sein «final colour» zum Vorschein, sein wahres Ich.
Sie haben mal erzählt, dass unter den unzähligen Filmfiguren, die Sie während Ihrer über dreissigjährigen Filmkarriere gespielt haben, einige miteinander verwandt sind. Wie meinen Sie das?
Manchmal werden mir Rollen angeboten, die mir aus früheren Filmen bekannt vorkommen. Mit Pawel Pawlikowski habe ich beispielsweise «The Woman in the Fifth» gedreht. Meine Figur in diesem Film verspürt sehr viel Schmerz. In meinem Kopf war es, als spielte ich die gleiche Figur wie in «Dead Poets Society». Ich dachte mir: Was, wenn Todd dreissig Jahre später einen Nervenzusammenbruch erlitten hat? Bei meinem anderen neuen Film «Juliet, Naked» war das ähnlich: Für mich war es, als spielte ich die ältere Version meiner Figur aus «Reality Bites».
Haben Sie dann nicht das Gefühl, dass Sie sich vor der Kamera wiederholen?
Ich sehe das eher so, dass ich mich mit einer alten Figur neu auseinandersetze. Das hat etwas sehr Befriedigendes. Aber Sie haben schon Recht: Manchmal schaue ich in den Spiegel und denke: Das hatten wir doch schon mal. Zum Beispiel, wenn ich wieder einen Cop spiele. Dann muss ich sicherstellen, dass er sich vom letzten Cop, den ich gespielt habe, unterscheidet. Obschon sie hinsichtlich ihres Jobs und ihrer Persönlichkeit kaum voneinander unterscheidbar sind.
Wie kommt man aus dieser Schlaufe wieder raus?
Mit zunehmenden Alter fällt es mir einfacher, neue Rollen, neue Looks und neue Akzente auszuprobieren. Als ich jünger war, hasste ich alles, was künstlich war. Ich wollte wahrhaftig sein. Doch inzwischen habe ich gemerkt: Was wahrhaftig ist, ist formbar. Nehmen wir zum Beispiel meine beiden Filmfiguren Chet Baker aus «Born to Be Blue» und Reverend Toller aus «First Reformed»: Sie haben eine völlig andere Postur und sprechen auch vollkommen anders. Diese Unterschiede machen mir heute Spass.
Sie spielen in «First Reformed» einen Geistlichen, der seine Kirchgemeinde in die Luft jagen will. Experten in Hollywood glauben, dass Sie für diesen Aufsehen erregenden Auftritt nächstes Jahr endlich einen Oscar gewinnen werden ...
Reverend Toller ist eine der vielschichtigsten Filmfiguren, die ich je spielen durfte. Oft zeichnet sich eine Filmfigur durch eine bestimmte Qualität aus. Mein Job ist es dann, darum herum den ganzen Facettenreichtum einzufärben. Bei Reverend Toller war das ganz anders. Ich fragte mich: Ist er eine gute Person, ist er böse? Wann dreht er durch? Oder war er immer schon verrückt? Diese Vielschichtigkeit war eine riesige Herausforderung. Ich vergleiche die Rolle gerne mit «Macbeth»: Bei «Macbeth» weisst du, dass du die Figur nie so gut spielen kannst, wie sie es verdient. Sie ist zu gut, zu bestechend, zu vielschichtig.
Haben Sie aus diesem Grund auch schon mal eine Rolle abgelehnt?
Ja. Es kann vorkommen, dass mein Agent mir ein aufregendes Rollenangebot hinlegt und ich dann sage: Das kann ich nicht, diese Figur habe ich nicht in meinem Repertoire. Aber manchmal kriegst du auch Rollen angeboten, die einfach zu schlecht sind. Einmal wurde ich in einem Film von Jim Sheridan gecastet. Ich verehre Jim, doch ich musste ihm diesen Film ausreden. Ich sagte ihm: «Jim, ich würde gerne mit dir arbeiten, aber das Drehbuch ist viel zu schlecht!» Nach dem Meeting mit den Autoren flüsterte er mir zu: «Ja, das ist wirklich mies.» Und so haben wir den Film nie gemacht.
Dafür haben Sie mit einem anderen Regisseur gleich mehrere Filme gedreht: Antoine Fuqua. Als ich ihn vor ein paar Tagen zum Interview traf, bat er mich, Ihnen eine Frage zu stellen. Er sagte: «Ask Ethan, how the fuck did he manage to write a script while shooting my movie?»
(Lacht schallend) Es stimmt, ich stand damals gerade für Antoines Film «The Magnificent Seven» vor der Kamera. Wir drehten fünf Monate lang in Louisiana. Er gab natürlich jeden Tag Vollgas, aber ich musste nur jeden zweiten Tag ran. Meine Frau und meine Kinder kamen mich besuchen, doch ihnen war es dort zu heiss, also reisten sie wieder ab. An den drehfreien Tagen wurde mir dann so langweilig, dass ich meinen guten Freund Ben Dickey einlud, mich zu besuchen ...
Moment mal! Ben Dickey ist doch der Schauspieler, der jetzt in Ihrem Film Blaze Foley spielt. Fuqua hatte also recht: Sie arbeiteten während des Drehs tatsächlich am Script zu «Blaze».
Ja, auf gewisse Weise hat genau dort mit «Blaze» alles angefangen. Ben Dickey ist eigentlich gar kein Schauspieler, sondern Profimusiker. Ich sagte zu ihm: «Wenn du mich besuchen kommst, dann klaue ich ein paar unserer Kameras und drehe dein neues Musikvideo.» Er kam – und haute mit seinem Schauspieltalent nicht nur mich um, sondern auch einen befreundeten Filmproduzenten. Wir blickten uns an und sagten: Ben ist die ideale Besetzung für «Blaze». Als Profimusiker wirkt er in der Rolle sofort authentisch.
Ben Dickey spielt im Film nicht nur Blaze Foleys musikalische Begabung sehr authentisch, sondern auch dessen selbstzerstörerische Impulse.
Blaze hatte in seinem Leben zwei grosse Lieben: seine Ehefrau Sybil und seinen Musikerkollegen Townes van Zandt. Die eine Liebe war gesund, die andere zerstörte ihn. Blaze wollte so berühmt sein wie Townes, das machte ihn fertig. Denn es liegt nicht an uns, zu sagen: Ich bin der nächste Tolstoi oder der nächste Ray Charles. Das können nur andere beurteilen. Blaze wurde von einem tiefen Selbsthass geplagt, doch gleichzeitig brachte er seinen Mitmenschen eine grosse Wärme entgegen. Sind es nicht genau diese zwei Kolben, die das Leben vieler Menschen antreiben? Genau deswegen hat mich Blaze Foley so fasziniert, genau deswegen wollte ich einen Film über ihn machen.
Und ein gut aufgelegter Ethan Hawke.
Ich finde den Film Gattaca von der Atmosphäre her, geschweige denn von den brillanten Schauspielern, ein sehr dichter, gelungener Film, wie die Zukunft dereinst aussehen könnte.
Auch die mittlerweile drei Filme umfassende Reihe Before Sunrise, Before Sunset und Before Midnight ist grossartiges Kino mit tollen Dialogen.