Das Konzept ist lustvoll und ganz einfach. Eigentlich. Trotzdem verdreht es dem einen und der anderen die normverseuchten Hirnzellen: Die beste Frau gewinnt. Egal ob mit Vulva oder Penis, beidem oder gar nichts. Die beste Frau ist eine Inszenierung. Eine Erfindung der Kultur. Und mit «beste» ist in diesem Fall oft die schrillste, übertriebenste, dramatischste oder bezauberndste Dame gemeint. Und mit Dame meinen wir selbstverständlich «Dragqueen».
Ein Wort, das während der letzten Jahrzehnten entweder unwissende Gleichgültigkeit oder homophobe Aggression im ungeschulten Denken heterosexueller Zeitgenossen hervorrief.
Viele homophile Anhänger der gegengeschlechtlichen Liebe mögen dieser Behauptung nun Unfairness vorwerfen. Denn mittlerweile schnellen beim Wort «Drag» auch die Hetero-Herzen hoch. Schliesslich wurden sie mittlerweile über die queere Kultur aufgeklärt und der Lehrmeister, der diese Bildungsrevolution angezettelt hat, nennt sich Rupaul.
1960 in San Diego geboren, wusste er schon immer, dass die Revolution, für die er einmal verantwortlich sein wird, eine schillernde sein wird. Und dass Kunstlicht, Pailletten und Mascara bei diesem Unterfangen wichtige Rollen spielen werden, war für den flamboyanten Afroamerikaner auch schon von Kindesalter an eine feste Tatsache. Es heisst, seine Mutter hätte ihn nach Geburt in die Arme genommen und vor sich hin gebrummt:
Es dauerte 33 Jahre bis aus Rupaul, einem schwulen Theaterstudenten, RuPaul, die erste Dragqueen mit einem MTV-Musikvideo-Hit wurde. Mit «Supermodel (You Better Work)» landete der Travestie-Künstler 1993 einen Coup.
In einer Zeit, in der Gangsta-Rap und Grunge die Charts dominierten, war ein schwarzer Typ im Fummel untermauert von – naja, eher unspektakulären – Disco-Dance-Beats eine unerwartete Erfolgsgeschichte.
Auf den Musik-Hit folgte die eigene Talkshow mit über 100 Episoden. Ein kleiner Oprah-Winfrey-Abklatsch: Promis werden interviewt, gegenseitige Liebe wird proklamiert und selbstironische Schwulenwitze im Minutentakt zum Besten gegeben. Dem amerikanischen Trash-TV-Publikum präsentierte sich jemand, der sehr genau wie das aussieht, was die Porno-Industrie heterosexuellen Männern als «exotisches» Sexobjekt verkauft. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Person im TV zwar angezogen war, gleichzeitig jedoch offen und frivol darüber sprach, was gerade mit Gaffa-Tape an ihre inneren Oberschenkel befestigt wurde: ein Penis.
You can call me he. You can call me she. You can call me Regis and Kathie Lee; I don't care! Just as long as you call me.
— RuPaul's Drag Race (@RuPaulsDragRace) 30. Mai 2013
Mit provokativen Auftritten, nicht nur in der eigenen Talk-Show, sondern auch in zahlreichen Filmen und Serien, schaffte es RuPaul, die engen Geschlechter-Vorstellungen der amerikanischen Mittelschicht herauszufordern. Nachdem die Travestiekunst während des gesamten 20. Jahrhunderts im schwulen Untergrund, an geheimen Lesbenbällen, in unbekannten Szenentreffs schlummerte, war Drag plötzlich ein fester Teil der kommerziellen Unterhaltungsbranche.
Zumindest in den USA. Der europäische Mainstream tat sich mit dem theatralischen Geschlechterspiel noch schwer – vorerst. Seit ein paar Jahren flimmern auch hierzulande schillernde Dragqueens über den TV. Das «SRF» zeigte letzen Herbst in ihrem doch sehr bürgerlichen «Bi de Lüt»-Spinoff namens «Fiirabig» eine Dragqueen beim dienstäglichen Chanson-Auftritt.
Auch das Pendlerblatt «20 Minuten» widmete erst kürzlich seine Frontseite zwei jungen Drag-Künstlern.
Und so hat auch schon watson ein Video mit der Bratsche spielenden Vicky Goldfinger aufgepeppt.
Dass die Travestie als Kunstform nun auch hierzulande in aller Munde ist, führen viele wiederum auf RuPaul zurück. Natürlich, da war auch noch Conchita Wurst. Die Kunstfigur, mit der Tomas Neuwirth 2014 den Eurovision Song Contest gewonnen hat.
Doch im Gegensatz zu Neuwirth nahm RuPaul die Hetero-Gesellschaft stets bei der Hand und zeigte ihnen jeden kleinsten Aspekt der Drag-Kunst. Nicht nur, weil er aufklären wollte, sondern weil man damit auch gutes Geld verdienen kann.
2009 startete er mit «RuPaul's Drag Race». Momentan läuft die zehnte Staffel der Castingshow, in der RuPaul nach neuen Drag-Superstars sucht. Dieses Jahr krönt er bereits zum zehnten Mal die beste Queen. Nun fragt man sich, was braucht jemand zum Drag-Meister? Ausser einen sexy Fummel und massenhaft Theaterschminke? RuPauls Antwort auf diese Frage würde wohl in etwa so lauten:
Fangen wir doch einmal bei der Begriffsgeschichte an. Über die Entstehung des Begriffs «Drag» scheiden sich nämlich die Geister. Im Englischen hat das Wort denn auch mehrere Bedeutungen. Im mechanischen Fachjargon bedeutet es Widerstand. Umgangssprachlich wird es oft als Bezeichnung für einen «Fummel» genutzt. Viele sehen im Wort Drag aber auch ein Akronym, das für dressed as girl oder im Falle von Dragkings für dressed as guy stehen soll.
Am besten fasst es wohl ein Zitat von RuPaul herself zusammen. Natürlich hat die Dragqueen aus diesem schlauen Satz eine Hit-Single gemacht:
So simpel dieser Satz auch klingt, fasst er zusammen, was die Gender-Philosophin Judith Butler in ihrem Werk «Das Unbehagen der Geschlechter» über 236 Seiten zu erklären versucht: Geschlecht ist eine Inszenierung. Eine Ansammlung unnatürlicher, aber kultureller Codes, die wir aufzuführen lernen.
Und die Dragqueens in RuPauls Sendung wollen ihrem Idol zeigen, wie gut sie das können; die Codes aufzuführen, sie zu überspitzen, ihre absurde Künstlichkeit aufzuzeigen. Weiblichkeit als Konstruktion. Sie tun das in übertriebenen Motto-Modeschauen (Unicorn-Realness, Rollerblade-Eleganza-Extravaganza, Princess-Fantasy), in komödiantischen Sketches oder in ausufernden Playback-Shows. Oft tut der Bauch weh, vom Lachen über die Absurdität der klischierten Darstellungen.
Es können aber nicht alle mitlachen. Immer wieder hagelt es harsche Kritik aus feministischen Kreisen. Es wird zum Beispiel festgestellt, dass RuPauls Dragqueens Weiblichkeit auf unreflektierte Weise zelebrieren und sich dabei keine Gedanken darüber machen, auf welche Art und Weise Frauen jenseits der Dragqueen-Bühne strukturell diskriminiert werden.
Des Weiteren wirft man RuPaul selbst vor, er habe das radikale Potential einer queeren Kultur derart perfide vermarktet, dass sie Gefahr läuft, ihre subversive Kraft zu verlieren. Denn ausser für schwule Männer, die sich gerne als Frauen präsentieren, hat RuPaul nicht wirklich viel übrig für all den ganzen Rest der LGBT-Community.
In der neunten Staffel hat sich die Dragqueen Peppermint als Transfrau geoutet. RuPaul meinte später in einem Interview, das sei ja schon okay. Irgendwie dann aber auch nicht. Er meinte, eine Transfrau, die Drag macht, sei wie ein Sportler, der Dopingmittel schluckt.
You can take performance enhancing drugs and still be an athlete, just not in the Olympics. pic.twitter.com/HkJjzXzUGm
— RuPaul (@RuPaul) 5. März 2018
Ein fataler Denkfehler, der die Dragqueen bei dem ganzen Gerede von der Bildungsrevolution für alle Heteros selbst als schwuler Mann mit queerer Bildungslücke outet.
Wer sowas sagt, hat die politische Essenz von Drag nämlich nicht verstanden. Drag ist nicht darauf beschränkt, dass sich Männer temporär in Frauen und Frauen temporär in Männer verwandeln. Drag hat nichts damit zu tun wie sich eine Person identifiziert, sondern wie sie sich in einem bestimmten Setting gibt.
Drag ist in erster Linie ein Spiel mit geschlechtlichem Ausdruck und nicht mit geschlechtlicher Identität. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Identität sitzt zwischen den Ohren und Expression ist, wie wir uns der Gesellschaft präsentieren. Frauen können Hosen und Hemden tragen und sind deshalb noch keine Männer. Männer können Röcke anziehen und sich eine Tonne Schminke ins Gesicht schmieren – solange sie sich als Männer definieren, sind sie als solches ernst zu nehmen.
Wer Drag macht, eignet sich für kurze Zeit einen Stereotyp an und übertreibt diesen in einem derart hohen Masse, dass uns allen klar wird: Kleider, Schminke, Gangart und vieles mehr – das ist alles fake. Ganz nach dem Motto: Nackt geboren und von da an ist alles Drag – alles unecht, alles Kultur, alles Show.
Doch die Show wird platt, wenn man sie darauf beschränkt, dass diese subversive Kunstform ausschliesslich von schwulen Männern praktiziert werden darf. In diesem Fall geht es lediglich um die Sensationslust. Um den Wow-Effekt der bei der Verwandlung vom nicht ganz perfekten Mann zur überaus perfekten Frau. Und da stellt sich schliesslich dann doch die zynische Frage, ob so ein Format, stereotypische Bilder nicht eher reproduziert, als dass es sie auflöst.
Die Mehrheit des Drag Race-Publikums meint immer noch, dass letzteres der Fall ist. Denn trotz aller berechtigter Kritik, darf man RuPauls Sendung nicht völlig verteufeln. Sie geniesst einen unvergleichbaren Erfolg, indem sie grundsätzlich alle Bedürfnisse eines durchschnittlichen Trash-Reality-Casting-Fans bedient: Ein paar Nervenzusammenbrüche, ein paar fiese Beleidigungen, Drama, ein klein wenig Fremdscham.
Und gleichzeitig – und das ist sehr selten – schafft es das Format, seine Teilnehmer nicht autoritär zur Optimierung zu treiben, wie es Heidi Klum etwa schon seit zwölf Jahren bei «Germany's Next Topmodel» tut. Viel mehr erhält man bei RuPaul den Eindruck, Zeuge eines Community-Treffens zu sein, dessen Angehörige zufälligerweise gerade einen Wettbewerb veranstalten.
RuPaul hat Drag aus dem Untergrund in den Mainstream gebracht. Und damit der (let's face the fact: mehrheitlich heterosexuellen) Gesellschaft gezeigt, dass es sexuelle Minderheiten noch immer verdammt hart haben und dass das Geschlecht oft nichts weiteres als eine Illusion ist, die man mit Highlighter, Lippenstift und glitzernden Overalls eigentlich auf jeden Körper projizieren kann.
Und spätestens seit die Sendung auf Netflix läuft, sollten das im besten Fall auch die Heten eines jeden Schweizer Bergtals mitbekommen haben.