Jung waren wir alle mal. Und zum ersten Mal betrunken, verliebt, so glücklich, so unglücklich wie nie vorher und nachher. Schiffbrüchige im Meer der Gefühle. In der Schwebe zwischen Kindheit und Erwachsensein. Unentwegt Verwandlungen ausgesetzt. Und im ständigen Kampf mit allerlei Monstern aus der Qual und Schrecken verbreitenden Familie der Hormone.
Das ist die ganz normale Pubertät. Sie ist schlimm genug. Noch schlimmer wird sie in der Fiktion. Dort, wo alles grösser und grausamer gemacht wird. Weshalb die Pubertät – das Heranwachsen, das «Coming of age» – sich auch als des Horrorfilms liebste Phase für so ein Menschenleben anbietet.
Denken wir an «Carrie» oder «It» mit ihrem blutigen Ausschlachten der Menstruationsmetaphorik. Oder an «When Animals Dream», in dem sich eine Heranwachsende in einen Werwolf verwandelt. Und schliesslich an «Blue My Mind» aus der Schweiz – eine Pubertierende wird erst sexsüchtig, dann zur Nixe.
Mädchen sind für den Horror bedeutend interessanter als Jungs. Schliesslich ist der Übergang vom körperlich integren Kind zur furchtbar blutenden, da fruchtbaren Frau weit drastischer. Weshalb das Hauptmonster in «The Innocents» auch die 16-jährige Schottin June (Sorcha Groundsell) ist. Innocent, unschuldig, ist sie deshalb, weil sie den Scheiss von ihrer Mutter geerbt hat. June ist nämlich Shifter oder Shape-Shifter, eine Gestaltenwandlerin also (wir kennen das Konzept spätestens seit «True Blood»): Sie verwandelt sich nicht nur langsam in eine Erwachsene, sondern auch blitzschnell in andere Menschen, was bei diesen ein vorübergehendes Koma zur Folge hat.
June dagegen übernimmt alles von ihren Opfern: Körper, Gefühle, Erinnerungen, Wissen, Fähigkeiten, selbst den Fötus im Bauch einer werdenden Mutter. Einzig beim Blick in den Spiegel sieht sie sich selbst. Der an sich simple Trick mit dem Spiegel erlaubt unzählige raffinierte Spielereien und liest sich wie ein ironischer Kommentar auf die Generation Selfie, die ihr wahres Ich nur noch durch die Kamera gespiegelt zu erkennen glaubt.
June liebt Harry (Percelle Ascott) und Harry liebt June, es ist eine erste Liebe so rührend in ihrer Absolutheit wie die von Romeo und Julia. Harrys Mutter ist Polizistin, sein Vater ist kaputt, auf ewig in einem katatonischen Stadium gefangen, und Junes Vater will seine Tochter auf eine abgelegene Insel verbannen. Natürlich fliehen die verliebten Teens, natürlich werden die beiden gejagt, schliesslich soll das sonderbare Mädchen undurchsichtigen Laborversuchen in einer norwegischen Fjordlandschaft zugeführt werden. Ein Arzt (Guy Pearce) therapiert dort angeblich lauter blonde norwegische Shifterinnen.
«The Innocents» ist eine britische Netflix-Produktion, was wohltuend ist nach den wie plastifiziert wirkenden amerikanischen Young-Adult-Serien von Netflix, nach «13 Reasons Why» oder «Insatiable». Die Körperlichkeit der Darstellerinnen und Darsteller wirkt tatsächlich weniger glatt, relaxter, die Optik des Ganzen ist etwas rougher, June und Harry dürfen auch mal leiser und differenzierter spielen.
Geschrieben haben «The Innocents» Hania Elkington und Simon Duric, es ist ihr erstes Drehbuch und ein Versuch, das Young-Adult-Genre erstmals mit der Melancholie des Nordic Noir zu kreuzen. Natürlich lässt sich dies dank der Landschaften von Schottland und Norwegen überaus fantastisch verwirklichen. Schwerblütige Seelenlandschaften zwischen sanft und schroff, bestens geeignet als Folie für eine schwierige, nicht ganz pathosfreie Liebesgeschichte. Ja, ein bisschen lässt «Twilight» grüssen, stehn wir dazu.
Über die Hälfte der Konsumentinnen und Konsumenten von Young Adult Entertainment sind übrigens – Erwachsene. Wieso? Erstens, weil wir alle mal jung waren. Zweitens, weil Serienschauen zu den ganz grossen Vergnügen der Kinder- und Jugendzeit gehörte. Quasi als elterlich erlaubtes Suchtmittel. Und mit dieser umwerfenden, unvergesslichen Wirkung eines ersten Mals. Drittens, weil die tendenziell nach 1980 Geborenen nichts so gern hinauszögern wie das definitive, das Leben definierende Gefühl des Erwachsenseins.
Serien gehören für uns alle zum Sucht- und Eskapismusmaterial. Und Teenie-Serien eben noch ein bisschen mehr als alle andern. «The Innocents» eignet sich dafür mal wieder besonders gut.