Elio (Timothée Chalamet) blickt verloren ins Kaminfeuer, schluchzt und versucht erfolglos, die Tränen zu unterdrücken. In seinem Gesicht spiegeln sich die Flammen, hinter der Fensterscheibe in seinem Rücken fällt Schnee. Der junge Mann spricht während dieser vierminütigen Einstellung kein einziges Wort, und trotzdem ist alles gesagt. Alles über das Feuer der ersten Liebe, über die Kälte der ersten Abweisung, über den Schmerz des Verlusts.
Es ist eine Filmszene, so schmerzhaft schön, dass man als Zuschauer kaum umhinkommt, nach einem Taschentuch zu greifen. So jedenfalls ist es Tausenden Kinobesuchern ergangen seit der Premiere von «Call Me By Your Name» Anfang 2017 am Filmfestival Sundance, wo die Romanverfilmung genau so für Furore sorgte wie später an der Berlinale und am Zurich Film Festival.
Die Filmhandlung, die auf dem gleichnamigen Roman von André Aciman basiert, spielt im Sommer 1983 in der Lombardei. Der 17-jährige, mehrsprachige Elio verbringt seine Ferien auf dem Landsitz seiner Eltern, sein Vater (Michael Stuhlbarg) arbeitet dort als Archäologe, seine Mutter (Amira Casar) als Übersetzerin. Elio hängt den ganzen Tag seinen eigenen Gedanken nach, übt sich im Klavierspielen und lässt sich nachts auf die Reize seiner Ferienliebe Marzia (Esther Garrel) ein.
Doch als der gutaussehende, charmante Oliver (Armie Hammer) ankommt – der Doktorand aus den USA, der Elios Vater den Sommer über assistieren soll – steht Elios Welt auf einen Schlag kopf.
Wie der letztjährige Oscar-Gewinner «Moonlight» wird «Call Me By Your Name» nun als Plädoyer für gleichgeschlechtliche Liebe ausgelegt. Doch dass es zwei Männer sind, die sich hier ineinander verlieben, ist eigentlich unerheblich. Was Elio und Oliver tun, wird im intellektuellen Umfeld des Landhauses von niemandem als sündhaft empfunden, die beiden müssen ihre Liebe nicht verstecken, aber sie müssen sich ihrer klar werden. Ihre Annäherungsversuche sind anfangs zaghaft und scheu, werden dann hungrig bis verzweifelt.
Der italienische Regisseur Luca Guadagnino, bekannt für Filme wie «Io sono l’amore» und «A Bigger Splash», hat die Romanhandlung in seine Heimatstadt Crema verlegt und in überaus sinnlichen, betörenden, lasziven Bildern inszeniert.
Ob die beiden jungen Männer gemeinsame Veloausflüge unter der italienischen Sonne unternehmen, sich beim Volleyballspielen necken oder Elios Vater dabei zuhören, wie dieser von den Körperkurven Jahrtausende alter Statuen schwärmt: In jedem Wort, in jedem Blick und in jeder Geste lodert feuriges Verlangen.
«Ruf mich bei deinem Namen und ich rufe dich bei meinem», spricht Oliver zu Elio in einer der intimsten Filmszenen – wonach sich die beiden Männer auf ewig in das Herz des anderen eingebrannt haben. In einem Interview erzählte Guadagnino, er wolle mit seinem Film die «Melancholie verlorener Dinge» einfangen. Das ist ihm zweifellos gelungen.
«Call Me By Your Name» macht den ganzen Gefühlsreigen der ersten grossen Liebe spürbar, dieser einzigartigen Leidenschaft, die jede Körperfaser erfasst, die einen an der Schwelle zum Erwachsensein formt und von der man auch Jahre später noch zehrt, wenn nichts anderes übrig geblieben ist als die schmerzvolle Erinnerung daran.
Hauptdarsteller Timothée Chalamet gilt dank dem Film in Hollywood als Newcomer des Jahres. Der Amerikaner mit französischen Wurzeln spielt seine Rolle mit einer solchen Hingabe und emotionalen Reife, dass er nun zuoberst auf den Notizzetteln aller wichtigen Castingagenten stehen dürfte.
Mit seinen 22 Jahren ist er der jüngste Schauspieler seit 1944 und dem damals 19-jährigen Mickey Rooney, der bei den Oscars als bester Hauptdarsteller nominiert ist, neben Veteranen wie Gary Oldman und Denzel Washington.
Dazu darf «Call Me By Your Name» auf drei weitere Oscars hoffen: für den besten Spielfilm, für das beste adaptierte Drehbuch (James Ivory) und für den besten Filmsong («Mystery of Love» von Sufjan Stevens). Gäbe es auch einen Oscar für den herzzerreissendsten Liebesfilm: «Call Me By Your Name» hätte ihn auf sicher.
«Call Me By Your Name» läuft jetzt im Kino. Timothée Chalamet spielt auch noch im ebenfalls mehrfach für die Oscars nominierten «Lady Bird» von Greta Gerwig.