Machen wir uns nichts vor: Journalistinnen und Journalisten sind Bluthunde. Vampire. Parasiten. Unser Job sind die Geschichten der anderen. Wir graben sie aus, holen sie ans Licht, beleuchten sie mal sanfter mal greller, mal fairer, mal drastischer. Und vor allem anderen sind wir Junkies: Süchtig nach dem Kick des Klicks, nach Anerkennung, egal ob in Form von Liebe oder Hass.
Die grössten Junkies finden sich zuverlässig im Bereich der Reportage. Dort, wo das sogenannte «Storytelling», das Geschichtenerzählen, in die reine Realität der Informationen eingreift. Wo riesige, in ihrer Komplexität nur schwer fassbare Themen zu Menschen, ihren Meinungen und Erfahrungen verdichtet werden. Wo die Leserinnen und Leser erlöst werden. Weil sich zeigt: Gut und Böse sind genau so Gut und Böse, wie ich mir das vorstelle, und für alles, was geschieht, gibt es einen guten Grund.
Es sind Erlösungsszenarien, wie sie in den preisgekrönten Reportagen von Claas Relotius – im «Spiegel», aber auch in der «Weltwoche» oder im «Reportagen»-Magazin – dutzendfach zu lesen waren. So beschreibt es der Reporter Juan Moreno in seinem Buch «Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus».
Juan Moreno war der Mann, der Relotius im vergangenen Winter enttarnte. Weil er ihm weder traute noch vertraute. Weil er nach einer gemeinsamen Reportage über Flüchtlinge und ihre Jäger an der mexikanisch-amerikanischen Grenze («Jaegers Grenze») skeptisch wurde und nachforschte.
Und siehe da: Relotius hatte die Miliz-Grenzpatrouille, mit der er angeblich tagelang auf Pirsch war, gar nie besucht. Er hatte mehrere der Männer erfunden. Er hatte ein einziges Mal mit der Frau des Anführers gemailt und nutzte diese Mail später, um weitere zu fälschen. Menschenjagdszenen, wie er sie eindringlich schilderte, gab es nicht. Er brauchte falsche Fotos und fakte den Facebook-Account eines «Informanten». Markige Zitate stammten aus den Interviews, die andere schon früher geführt hatten.
Aber: Relotius hatte geliefert, was seine Vorgesetzten beim «Spiegel» bestellt hatten. Satte Schicksalsgeschichten. Monokausale Erklärungen. Moreno, der seinerseits eine Flüchtlingskarawane begleitet hatte, nicht. Der hatte geschrieben, was wahr war. Und natürlich reichte die Banalität des Realen nicht an das grenzwertige Grenztheater von Relotius heran. Relotius massregelte Moreno für seine schlechte Arbeit.
Moreno informierte seine Vorgesetzten. Die ihm erst einmal klar machten, dass nicht Relotius' Job, sondern seiner auf dem Spiel stände. Denn der erst 32-jährige Relotius, Sohn eines Ingenieurs und einer Lehrerin, war der Goldjunge, wurde gerade mit dem nächsten grossen Journalistenpreis behängt und stand vor einer Beförderung zum «Spiegel»-Ressortleiter. Der 46-jährige Moreno, Sohn andalusischer Fabrikarbeiter und selbst vierfacher Vater, war bloss ein freier Mitarbeiter.
Doch welcher Vorgesetzte fragt da schon nach? Wer ist so hartherzig, dies nicht zu glauben? Und war Claas Relotius nicht der netteste Mitarbeiter überhaupt? Freundlich, mitfühlend? In der berühmten Fact-Checking-Abteilung des «Spiegels» erkundigte er sich allerliebst nach Angehörigen. Fragte schon während seiner Recherchen um Rat. Keiner kam dort jemals auf die Idee, seinen Texten zu misstrauen.
Claas galt als guter Mensch und Journalist, in seiner Gegenwart legten sich die härtesten Hunde schlafen. Weil sie ihm blind vertrauten. Vorgesetzte, Fact-Checker, Preisjurys, Leser.
Schon auf der Journalistenschule hatte er Heldentaten erfunden. Später erfand er Menschen und ihre Schicksale bis ins kleinste Detail, inklusive Kinderliedern und ganzen Gesetzen, die ausserhalb seiner Texte noch nie existiert hatten. Und er erfand auch gleich noch die Entstehungsgeschichten seiner Märchen mit dazu. Wer einen Verdacht an ihn herantrug, erhielt umgehend ganze Materialsammlungen zur Antwort. Gefälschte, selbstverständlich. Aber schliesslich, so folgert Moreno einmal lakonisch, hatte er für sowas im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Reporter auch Zeit.
Juan Moreno hat Claas Relotius nun also 300 Seiten gewidmet. Auch das zeugt von einer enormen Besessenheit. Mit all den Auftritten, die Moreno deswegen schon gehabt hat und noch haben wird, geht seine Existenz jetzt ganz in der Affäre Relotius auf.
Zwischen ihnen stehen nichts als die Büro- und Konferenztische einer mächtigen Redaktion, an denen entschieden wird, welche Emotionen, Tonalitäten, Spannungskurven und Skandale im irren Reich der Aufmerksamkeitsökonomie gerade nötig sind. Die einen geben alles, um diese Nachfrage zu befriedigen, die anderen noch mehr. Klar, das Letztere als Retter der Zukunft einer Branche gefeiert werden.
Das Grauen, das in den Köpfen dieser Entscheidungsträger heraufdämmerte, als sie sich endlich eingestehen mussten, dass Relotius viele seiner Reportagen in grossen Teilen erfunden hatte, muss infernalisch gewesen sein. Die Wochen, die Moreno, seine Frau und eine Hand voll verschwiegener Freunde auf eigene Kosten in die Aufdeckung investierten, waren es ebenfalls.
Das Buch ist – seinem Sujet geschuldet – natürlich eine Sensation. Und mit ziemlicher Sicherheit das Beste von Relotius und Moreno. Gewissermassen der zweite Versuch einer gemeinsamen Story. Jetzt unter umgekehrten Vorzeichen. Sie könnte auch «Relotius' Grenzen» heissen.
Das kommt davon, wenn Klicks und Auflagen zum Wichtigsten werden und das Eigentliche – nämlich Aufklärung und Aufdeckung – zweitrangig wird.
Ich mag mich erinnern, wie damals im TV gezeigt wurde, wie sie Saddams Statue in Bagdad «gestürzt» haben. In jedem Beitrag sah das so aus, als wäre ganz Bagdad dabei gewesen.
Zufälligerweise bin ich im Netz über den Satelliten-Feed von diesem Ereignis gestolpert, der den ganzen Platz zeigte und nicht nur den Ausschnitt, den man im TV gesehen hat. Wenn da 100 Leute waren, waren's viel. /1