Dass es nicht zu einer Penetration kam, wertet Sally Field als Zeichen von «Liebe». Der Liebe ihres Stiefvaters Jock Mahoney nämlich, der Hollywood in den 40er-Jahren als Stuntman betrat und in den 50ern zum TV-Serienstar wurde. Ein Mann, an dem alles etwas zu handfest war, besonders seine Zuneigung zu Sally.
Jock ist der erste Mann, der so richtig ins matriarchale Gefüge der Field-Family einzudringen vermag. Da ist die Grossmutter Joy, die mit Mutter und Schwestern in einem kleinen, bienenstockartigen Haus lebt, wo alle immer am Backen, Stricken und Solitaire-Spielen sind. Da ist Sallys Mutter Margaret, eine umwerfende Schönheit, die zwar verheiratet, aber Zeit ihrer Ehe allein ist, weil der Mann als Soldat in Übersee kämpft. Margaret spielt Theater und wird eines Abends von Paramount entdeckt – auf der Leinwand wird sie es allerdings nie zu mehr als ein paar B-Movies bringen.
Sie und Jock werden zum Glamour-Paar, das immer knapp über seine Verhältnisse lebt, erst werden ihre Häuser und Autos immer grösser, dann wieder kleiner, und die drei Kinder werden gnadenlos trainiert und abgerichtet – Sally nicht nur zu sportlichen Leistungen, sondern auch zu sexuellen Dienstleistungen. Massagen im Ehebett, die in einem «Happy End» münden, während die Mutter in der Küche steht. Bizarre Szenen im Bad. Oder tanzen in einem «Kostüm» aus durchsichtiger Plastikfolie mit nichts darunter. Gartenarbeit oben ohne.
Der Mann ist ihr hörig und besänftigt sein schlechtes Gewissen mit Geschenken. In der Baumhütte, die er seinem Stiefkind bastelt, versucht Sally, seine Attacken zu vergessen. Es ist herzzerreissend, als wäre Nabokovs «Lolita» an der Peripherie von Hollywood Realität geworden. Und doch ist da auch immer wieder echtes Glück. Sogar mit dem Stiefvater.
Mit vierzehn schafft Sally es endlich, ihn zurückzuweisen, und als Leserin von «In Pieces», Sally Fields spektakulär gut geschriebener Autobiografie, atmet man auf und hofft, dass das Gefühl, in den nächsten Busch kotzen zu müssen, nicht zurück kommt. Erst Jahrzehnte später, als die Mutter schon dem Tod entgegengeht, gesteht sie ihrer Tochter, Bescheid gewusst zu haben. Nicht über alles – Mahoney fasste sein Vergehen in einer einzigen, symbolischen Episode zusammen und bat seine Frau dafür um Vergebung.
«In Pieces» ist über sieben Jahre entstanden, Sally Field, die zweifache Oscar-Gewinnerin, die Mutter von «Forrest Gump», die Präsidentengattin an der Seite von Daniel Day-Lewis in «Lincoln», hat dafür keinen Ghostwriter beansprucht. Und wahrscheinlich ist es genau dies, was ihre Autobiografie zum Jahresende hin in die «Books of the Year»-Listen der englischen und amerikanischen Medien katapultierte.
Begriffe wie «Wahrhaftigkeit» und «Authentizität» stehen ja immer etwas unter Pathos- und Kitschverdacht, aber hier treffen sie zu. Denn das Buch ist so geschrieben, wie Sally Field sich ihre Rollen als Schauspielerinnen aneignete: Vorbehaltlos, selbstkritisch, voller Hingabe, im Versuch, ganz aufzugehen in diesem Drehbuch, das sich Leben nennt. Heute ist sie 72. Und wir können nur hoffen, unser – viel schlichteres – Leben retrospektiv auch einmal so zu betrachten, wie sie: Ohne nachtragend zu sein und über allem von einer zarten Heiterkeit beseelt.
Ihre erste Rolle spielt Sally noch als Teenager in der TV-Comedy «Gidget» – sie ist das Titelmädchen, das verrückt ist nach Jungs und Surfbrettern und immer vergnügt im Bikini am Strand rumrennt.
Nach einer Staffel wird «Gidget» abgesetzt, doch Sally ist ein Superstar, aus einer unpopulären Schülerin, die nur auf der Theaterbühne aufblühte, ist über Nacht nicht nur ein bekanntes Gesicht, sondern auch die Ernährerin ihrer Familie geworden. Es folgt – rein äusserlich – das pure Gegenteil, nämlich «The Flying Nun», eine Serie über eine kindliche Nonne, die, na ja, fliegen kann. Ein Nonsense. Und ein Hit, dem Sally nur durch die Geburt ihres ersten Sohnes entkommen kann.
Eigentlich ist ihre Karriere da schon am Ende. Von ihrer Versehrtheit, davon, dass sie versuchte, den Missbrauch durch den Stiefvater mit ihrem eigenen sexuellem Aktivismus zu bewältigen und mit 17 eine Abtreibung hatte (das Setting, irgendwo in Mexiko, ist schauerlich, ihr Arzt kommt zwar mit, weigert sich aber, das Auto zu verlassen und die klandestine Praxis zu betreten), weiss Amerika nichts.
Doch sie kämpft. Quält sich durch den Unterricht bei Lee Strasberg, wo jede Unterrichtsstunde einer besonders heftigen Therapiesitzung gleichkommt. Wo einem jede Rolle derart existentiell einfahren muss, als handelte es sich um einen umgekehrten Exorzismus. Derweil betteln sie der biologische und der angeheiratete Vater um Geld an, und ihr Mann Steve kifft sich den letzten Rest von Antrieb aus dem Leib. Sie ist eine unsichere, überforderte junge Frau mit mittlerweile zwei Kindern.
Als sie mit 28 endlich bei einem Casting zu überzeugen vermag, ruft sie der Regisseur nachts auf sein Hotelzimmer, ohne sie nackt gesehen zu haben, könne er ihr die Rolle nicht abschliessend geben, ohne sie geküsst zu haben auch nicht. Danach lässt er erst die gesamte Crew darüber abstimmen, wie sexy sie sei, und als die Crew sagt, doch, ist sie, schläft er mit ihr.
Der Film heisst «Stay Hungry», Field spielt die Rezeptionistin einer Muckibude, wo unter anderen der junge Arnold Schwarzenegger trainiert, und darf sich in Jeff Bridges verlieben. Im gleichen Jahr macht sie im TV-Zweiteiler «Sibyl» als Frau mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung Furore. Der süsse Lack ist endlich und für alle sichtbar ab.
1977 spielt sie das Liebesleben von keinem andern als Burt Reynolds in «Smokey and the Bandit», er ist der Superstar der Saison, sie wird umgehend seine Geliebte. Ein paar Jahre sind sie zusammen, echte Zuwendung heisst für ihn, ihr mal eine Kopfwehtablette zu geben. Sein schlechtes Gewissen macht er durch exzessive Geschenke wett, Juwelen, Autos ... Eifersüchtig will er ihr das Herzensprojekt «Norma Rae» – eine Textilfabrik-Arbeiterin wird zur Arbeiterführerin – ausreden, sie gewinnt mit dem Film Cannes, einen Golden Globe, den Oscar.
Fields Versuch, das Mädchen zu verstehen, das sich so lang nicht gegen Missbrauch auflehnte und aus dem die Frau wurde, die in jede MeToo-Falle trat, die man ihr stellte, ist herzzerreissend. Der anekdotischen Hollywood-Glitzer dazwischen erholsam betörend – wie es zur Zusammenarbeit mit Steven Spielberg und Daniel Day-Lewis für «Lincoln» kommt und wie sich diese dann gestaltet, ist ein Once-in-a-liftime-Märchen an Glückseligkeit.
Aber was alle Splitter von Fields verschiedenen Welten und Emotionen zusammenhält, ist ihr Beruf, ist ihre Berufung, ist ihr exaktes Eintauchen in Arbeitsprozesse, die man so genau noch selten, vielleicht auch nie gelesen hat. Kunst kommt bei ihr von totaler Selbstentäusserung. Andere mögen das analytischer, intellektueller und dadurch gewiss weniger schmerzhaft angehen, sie hat sich zur leidenschaftlichen Methode entschieden. Jede Rolle eine grosse Liebesgeschichte. Und dies oft glücklicher als die echten.
«In Pieces» (Simon & Schuster Verlag) liegt erst auf Englisch vor, das E-Book kostet ca. 9, das Taschenbuch ca. 14, das Hardcover ca. 39 Franken. Mit vielen Abbildungen. Zu beziehen über jede Buchhandlung, amazon oder books.ch.