Wer sich in die erste Reihe setzt, ist selbst schuld. In der ersten Reihe spritzt es oft. Echtes Blut und Schweiss und Speichel bei einem Boxkampf zum Beispiel. Falsches Blut und Schweiss und Speichel in einem Theater. Geschirr fliegt auch noch. Und zwei Schauspielerinnen klettern gelegentlich über die Sitze. Zum Beispiel in «Der erste fiese Typ», dem Stück nach dem Buch der Schriftstellerin und Künstlerin Miranda July.
Eine irre Geschichte: Die vollkommen ordnungsneurotische Mittvierzigerin Sheryl liebt den über 60-jährigen Philipp, der von ihr die Erlaubnis will, eine 16-Jährige zu vögeln. Sheryl ist die Büropflanze einer Firma, die mit Selbstverteidigungsvideos für Frauen viel Geld macht. Aggrobraut Clee, 20 und Tochter von Sheryls Boss, braucht eine Bleibe, Sheryl wird überredet, sie bei sich aufzunehmen. Clee verprügelt Sheryl und die geniesst das. Eine der seltsamsten Liebesgeschichten der Gegenwartsliteratur nimmt ihren Lauf. Brutal, berührend und vor allem verrückt komisch.
Damit also wurde nun in Zürich der «Pfauen» eröffnet, jener alte Kasten am Heimplatz, berühmt als die grosse Exilheimat deutscher Theaterkunst unter Hitler, danach der Spielplatz von Frisch und Dürrenmatt, alles sehr gewichtig, heimatschutzbedürftig heisst es heute, wehe, einem der rot gepolsterten Klappsitze wird ein Nagel gekrümmt, wehe, die Stuckdecke wird irgendwann wegsaniert.
Allerdings frag es sich, wo der Heimatschutz früher war. Als das Theater in den 20er-Jahren umgebaut wurde. Und in den 70er-Jahren. Was dabei verloren ging. Und was sich noch irgendwo versteckt. Hinter Tapeten, Verputz und Decken.
Aber schauen wir doch einmal konkret hin.
Hier sehen wir nämlich die uralte, grosszügig verzierte Pfauendecke aus dem 19. Jahrhundert. Die angeblich so alte, von den Zürchern heissgeliebte Decke, die jetzt im Pfauen das Parkett überspannt, ist drangeknüpft. Mit Stahlseilen. Der silberne Trichter links im Bild führt von der alten Aufhängung des Kronleuchters zum Leuchter heute. Hallo, Heimatschutz?
Jetzt beginnt im Pfauen und im Schiffbau, den beiden Spielstätten des Schauspielhauses, also die 17. Intendanz und damit nach Barbara Frey die 16. unter Männern. Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg heissen die beiden Co-Direktoren, zwei Deutsche, zu Blomberg kann ich an dieser Stelle noch nichts sagen, aber Stemann verfolge ich seit sicher gut 20 Jahren, ein guter Mann, ein toller Regisseur und anständiger Mensch. Doch das nützt an dieser Stelle nichts, denn zählen wird in den kommenden Monaten einzig, was auf die Bühnen kommt und wie es auf die Stadt übergreift, vom Pfauen und vom Schiffbau aus, der ja nur wenige Schritte von der watson-Redaktion in Züri West entfernt ist.
Sieben Regie führende Menschen aus der ganzen Welt haben sie mit sich nach Zürich gebracht. Bedingung war, dass die hier alle auch leben und sich in die Stadt einbringen müssen, fertig mit dem Luxus, dass jemand Zürich als Transitstation zwischen Berlin und Wien für das schnelle grosse Geld nutzen kann. Eben mal dreissig- bis vierzigtausend Franken für eine Gastregie einsacken und nach der Premiere wieder verreisen und alles sich selbst überlassen.
Aber Stemann und Blomberg sind charming motherfuckers und haben die sieben, von denen einige bereits grosse internationale Karrieren haben, zum Bleiben überredet. So, wie sie Harald Nägeli, den Sprayerguru von Zürich, dazu überredet haben, einen Schutzengel als neues Schiffbau-Logo zu kreieren. In Neonpink trohnt er dort jetzt über dem Eingang.
Mit allem, was aktuell noch so vor dem Schiffbau steht – ein Komposthaufen, auf dem die «Kompostmoderne» ausgerufen wird (okay, albern) und ein Farbnebel-Pavillon, in dem man das Gefühl des Verlorenseins im Internet erleben kann (schön, aber nix für Asthmatiker) – sieht es in unserer Nachbarschaft gerade aus wie auf dem Dreh von «Mad Max».
Innendrin wird ebenfalls auf Nachhaltigkeit gesetzt, von allen acht Regieschaffenden werden zu Beginn bereits bestehende Arbeiten gezeigt, auch hier ist es ein Statement gegen den Luxus, eine Produktion nach wenigen Vorstellungen oder einer Saison bereits vom Spielplan zu nehmen. Von Stemann ist das sein achtstündiger, seit 2011 erfolgreich tourender «Faust I & II». Und von Suna Gürler, mit 33 Jahren die Jüngste im Regieteam, ist es «Flex», eine Arbeit mit dem Jungen Theater Basel nach Texten der 32-jährigen britischen Feministin Laurie Penny.
Mit ebendiesem «Flex» ging die neue Ära am Mittwochabend los. Auf Baseldeutsch. Mit Laiendarstellerinnen. Okay, das Zürcher Schauspielhaus ist eins der grössten und hoffentlich bald wieder bedeutendsten Theater der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Und eins der reichsten. Dies mit «Flex» in der Schiffbau-Box zu eröffnen, war nicht nur ein totales Understatement, sondern schon fast eine Zumutung. Nein, war es natürlich nicht. Denn «Flex» ist fantastisch. Ein Triumph.
Sechs junge Frauen rocken ab. Darüber, dass man ihnen als Mädchen nur beibrachte, was man alles vermeiden und nicht tun solle, anstatt ihnen zu zeigen, wie man übergriffige Typen «so richtig vernichtet». Über die Macht von Bildern aus Medien und Model-Shows, die man trotz aller Behauptungen, sie nur ironisch zu konsumieren, eben doch verinnerlicht. Was bringt mehr fürs Selbstbewusstsein, in einem Pfadilager «Schiissilöcher» in den harten Boden zu pickeln, oder Kylie Jenner? Und wie ist das mit all den neuen Körperteilen, die ständig propagiert werden, etwa den «Thighbrows»?
«Flex» ist das Manifest einer Suche nach einem Platz im Leben, der den Frauen eine angstfreie, lustvolle, entfesselte Zukunft bietet. Und über Komplizinnenschaft. Performt mit einem jugendlichen Überschuss aller möglicher Kräfte und Säfte. Ein Sturm des Vergnügens made in Basel, der die Zürcher zu Begeisterungsstürmen hinriss.
Eine Stunde später «Wunschkonzert» von Franz Xavier Kroetz, Regie Yana Ross, in der Schiffbauhalle. Auch das soll fantastisch sein. Ein Triumph. An mir zog er vorbei. Ich fiel nach dem Kick von «Flex» kopfüber in den gähnenden Schlund totaler Langeweile. Okay, das Konzept war gut und sauber durchdekliniert: Mitten in der Halle steht eine Einzimmerwohnung ohne Wände. Wir stehen und gehen darum herum.
Eine Frau (Danuta Stenka) kommt nach Hause, ihr Leben ist klein, langweilig, routiniert. Weil sie allein ist, spricht sie kein Wort. Dafür bildet allerlei Reality den Soundtrack ihrer Realität: Im Fernsehen läuft die Hochzeitsfolge von Kim und Kanye aus «Keeping up with the Kardashians». Im Radio läuft ein Mundart-Wunschkonzert, in dem Menschen einander ausrichten lassen, was sie sich auch direkt sagen könnten.
Die Frau spielt «Sims», das Videospiel mit der Lebenssimulation. Vergleicht ihre Wohnungseinrichtung (hässlich) mit der im Micasa-Katalog (auch hässlich). Alle beobachten alle. Die Frau bringt sich um. Wir greifen nicht ein. Weil eh jede der Realitätsschichten, die wir sehen, eine Inszenierung ist. Jeder ein Zuschauer des anderen. Radikaler kann man die Situation, der wir im Theater begegnen, eigentlich nicht fassen. Trotzdem: Langeweile über der Umsetzung. Vielleicht hätte ich einfach einen Traubenzucker gebraucht. Aber vielleicht wars auch echt langweilig.
Am Donnerstag hielt die Karawane dann erstmals im Pfauen, bluffte mit der neuen Lichtshow im entschlackten und dank Spiegeln und neuen Türen grösser wirkenden Foyer, in dem sich jetzt auch Partys feiern lassen und nicht nur gedämpfte Stehmarathons. Im Parkett dagegen ist alles, wie es in den letzten vierzig Jahren war, wie «ein in Bernstein eingeschlossenes Traditionsjuwel», sagt Stemann.
Stadtpräsidentin Corine Mauch wünscht sich, dass das neue Team die Stadt «über die Theatermauern hinaus zum Schwingen» bringe und dass «alle unsere unterschiedlichen Fiktionen zusammen unsere gemeinsame Wirklichkeit ergeben» mögen. Wie der Regenbogen an der Foyer-Decke.
«Im ‹Tages-Anzeiger› steht, dass ich eine Ballettausbildung habe», sagt Maja Beckmann bei der folgenden Vorstellungsrunde der 35 Menschen, die wir in Zukunft auf der Bühne sehen werden und die exakt einen Zehntel des gesamten Schauspielhaus-Personals darstellen, «das stimmt nicht.» Und: «Ich komme aus dem Ruhrgebiet, da reden alle laut und viel. Hier ist das anders.» Das stimmt.
Und dann sehen wir sie auch schon wieder als Sheryl auf der Bühne, zusammen mit Henni Jörissen als Clee und der Musikerin Brandy Butler, die mit ihrer Interpretation von Elton Johns «Rocket Man» noch das verkrustetste Abonnentenherz zum Schmelzen bringt. Inszeniert hat dies Beckmanns Lebensgefährte Christopher Rüping, der mit einer andern Inszenierung von den deutschsprachigen Kritikerinnen und Kritikern gerade zum Regisseur des Jahres gewählt wurde.
Und: Zum dritten Mal in diesem Eröffnungsbouquet sehen wir einen Abend, an dem zu hundert Prozent Frauen auf der Bühne stehen. Ganz selbstverständlich. Gab's das schon mal? Irgendwo? Egal. In Zürich gibts das jetzt.
Hier gehts zum Schauspielhaus-Programm. Demnächst eröffnet auch das Theater Neumarkt mit einem Leitungstrio. Einem rein weiblichen.