Sie ist angstfrei. Obwohl sie vieles erlebt hat, was sich leicht unter «Scheisse» zusammenfassen lässt. Obwohl sie als Siebzehnjährige zusammengeschlagen und mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt wird. Beim Trampen. Ganz klassisch. Zusammen mit ihrer besten Freundin. Von drei Männern. Die beiden Mädchen wehren sich nicht. Die Todesangst ist zu gross. Es ist der Sommer 1986, irgendwo in Frankreich.
Danach sucht sie dort Zuflucht, wo sie sonst zuverlässig eine gefunden hat, wenn sie depressiv war, wenn sie suizidal war: in Büchern. Und findet zum Umgang mit Vergewaltigung genau nichts. Zum Glück steckt Virginie Despentes gerade tief in der Punkszene. Punk rettet sie. Der Lärm, die Wut tun ihr gut. Und weil sie ein Punk ist, hat sie nicht das Gefühl, ein «reines» Mädchen sein zu müssen. Die Vergewaltigung lässt sie nicht zerstört, nicht beschämt über die Beschädigung zurück.
Vier Jahre später liest sie die toughe Aufforderung der amerikanischen Feministin Camille Paglia, sich nach einer Vergewaltigung nicht zum Opfer zu stilisieren, sondern hart im Nehmen zu sein. Paglias mitleidloser Pragmatismus deckt sich mit ihrem Punk-Manifest.
Wieder vier Jahre später schreibt sie ihren Roman «Baise-moi». Es ist ein feministischer Road-Movie-Racheporno. 2000 verfilmt sie das Buch. Mit Pornodarstellerinnen. Es wird zum Skandal. Im Sommer 2000 reiben wir uns am Filmfestival Locarno alle die Augen, sowas gab's noch nie – und wer ist diese Virginie Despentes eigentlich, die an einem brütend heissen Tag enorm schlecht gelaunt vor uns sitzt und sich selbstvergessen in der Achselhöhle kratzt?
Mit 22 war Virginie Despentes tatsächlich in die Prostitution geschlittert. Halt, nein, war sie nicht. Sie wurde bei vollstem Bewusstsein und mit vollster Absicht Prostituierte. Keine fremd-, sondern eine selbstbestimmte. Keine, die von einem Zuhälter irgendwo an einem elenden Stadtrand auf den Strich geschickt wird und keine Papiere hat, sondern quasi eine privilegierte. Sie schlägt sich damals mit öden Gelegenheitsjobs durch: «Ich hasste es zu arbeiten. Mich deprimierte die Zeit, die es mir raubte, das wenige Geld, das ich verdiente, und die Leichtigkeit, mit der ich es ausgab.»
Zum ersten Mal macht sie sich als «Frau» zurecht. Mit Highheels und Minirock. «Die Wirkung auf viele Männer war fast hypnotisch. Eine Frau, die sich wie eine Nutte anzieht, erregt das Interesse fast aller.» Sie nimmt ihren neuen Job als ernorme Selbstermächtigung wahr. «Sobald ich in das Kostüm der Hyperweiblichkeit geschlüpft war: abrupt gesteigerte Selbstsicherheit wie nach einer Line Koks.» Und: «Die Kunden waren eher freundlich, aufmerksam, zärtlich zu mir. Tatsächlich weit freundlicher als im echten Leben.»
Ja, ist so, sagt Virginie Despentes, nicht die Prostitution an sich ist schlecht, sie wird nur schlecht gemacht. Weil sich die «normalen» Frauen, die Gattinnen, die Anständigen, die Sauberen bedroht fühlen von den unanständigen, randständigen Dienstleisterinnen, die erfüllen, was ihnen zuhause verwehrt bleibt. «Man hat Angst, dass sie (die Prostituierten) sagen, der Job sei gar nicht so furchtbar. Und zwar nicht nur, weil jede Arbeit entwürdigend, schwer und anstrengend ist. Sondern auch, weil viele Männer nie so liebenswürdig sind wie bei einer Nutte.»
Wow, okay. Was für eine handfeste, radikale Umdefinierung von weiblichen Opferrollen. Nach zwei Jahren hörte Virginie Despentes trotzdem wieder damit auf, es fühlte sich für sie zu sehr an wie «harte Drogen». Sie war zu süchtig nach der «fantastischen Kraft», die sie spürte, wenn sie sich prostituierte. Sie wurde Künstlerin. Schrieb Trash-Romane und drehte Trash-Filme über den starken weiblichen Trieb.
Heute fragt niemand mehr, wer die Frau hinter «Baise-moi» eigentlich ist. Heute ist Virginie Despentes ein Superstar. Die Autorin der «Vernon Subutex»-Trilogie. Jenes schrille, diverse, perverse Paris-Panorama, das im Kern um das Alt- und Rechtswerden einer früher so linken Kulturbohème kreist. Aber ich greife vor. Denn hier geht es nicht um «Vernon Subutex».
Hier geht es um jenes andere Buch von Virginie Despentes, in dem sie ihre Erfahrungen von Vergewaltigung und Prostitution und die Zeit mit «Baise-moi» beschreibt und mit kühnen, coolen Thesen über Sex und Gesellschaft durchsetzt. Es heisst «King Kong Theorie». Nichts Neues, es stammt von 2006, aber soeben im Zug des «Subutex»-Hypes neu übersetzt und aufgelegt.
Einige von Despentes Thesen haben sich inzwischen überholt, die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind fluider geworden, jüngere Generationen bewusster und sensibler. Aber dass Despentes ihre abgebrühten Analysen quasi aus der Strassenperspektive ihrer Erfahrungen vollzieht, macht «King Kong Theorie» zu einem enorm handfesten, ungewöhnlichen, lebensweisen und, ja, auch erfrischenden Stück feministischer Literatur.
Despentes schaute sich im Kino die Beziehung zwischen der weissen Frau und dem Menschenaffen an und war verzaubert. Hier war eine friedliche, freundliche Vision von Ruhe zwischen den Geschlechtern: «Dieser King Kong hat weder Schwanz noch Hoden noch Brüste. Zwischen ihm und der blonden Frau gibt es keine einzige Szene erotischer Verführung. Die Schöne und das Tier zähmen sich gegenseitig, sind voller Zärtlichkeit füreinander.» Sie sah darin eine «Metapher für eine Sexualität vor der Unterscheidung der Geschlechter, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen wurde. King Kong oder das Chaos vor den Geschlechtern.»
Weshalb das gute Biest, das ein wenig an die laute, im Schutz ihrer Combat-Hosen und festen Schuhen daherpolternden, blutjungen Punk-Virginie erinnert, ausgeschaltet werden muss. Zu viel der friedvoll verspielten Uneindeutigkeit in einer binär codierten Welt. Noch nie machte King Kongs Tod so melancholisch. Und noch selten ein Buch so stark.
Virginie Despentes: King Kong Theorie. Kiepenheuer & Witsch 2018. 150 S., ca. 15 Fr.