«Banksy hat wieder zugeschlagen!»
… über diese Schlagzeile freute sich während der letzten Tage das halbe Internet. Es freute sich über neue gesellschaftskritische Sujets des begnadeten und allseits beliebten Strassenkünstlers, mit denen er letzte Woche einmal mehr die Strassen von Paris verschönert hat.
Banksy 'attacks France's crackdown on #migrants ' by 'blitzing' Paris with six muralshttps://t.co/zxlVx3vbva#StreetArt
— Street Art (@streetstuff) 25. Juni 2018
Der anderen Hälfte des Webs waren die Wandbilder des Briten mehr oder weniger egal. Denn über Streetart regt man sich heute nicht mehr allzu doll auf. Unter gewissen Umständen. Das war aber auch schon anders. Die Geschichte zeigt, Graffitis, Tags und Wandbilder mussten und müssen, je nachdem auch heute noch, um ihre Legitimation kämpfen. Doch vieles von dem, was früher noch als vandalistische Schmiererei galt, wird heute in fünfstelligen Beträgen an Kunstmessen versteigert.
Der erste Tagger war weder ein vollberuflicher noch ein leidenschaftlicher Künstler. Er war ein Wanderer. Es war die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, in der der Östereicher Joseph Kyselak mit Pinsel und Farbe namhafte Gebäude und Wegweiser mit seinem Nachnamen verzierte. Der Alpinist, der als einfacher Staatsbeamter angestellt war, hatte angeblich eine Wette verloren. Deshalb soll er dazu verdammt gewesen sein, jeden Ort zu markieren, den er mit seinen Füssen betreten hatte. Noch heute findet man den Schriftzug «Kyselak» auf Plätzen, Statuen und Gebäuden in ganz Österreich. Allerdings handelt es sich in den meisten Fällen um moderne Fälschungen.
Das ist kein Wunder. Denn fast jeder, der heute dem illegalen «Verschönern» des öffentlichen Raums frönt, sieht in Kyselak den Urvater des Graffitis. Die modernen Fälschungen sind also sowas wie kleine Tribute an den Mann, der Jugendlichen auf dem gesamten Globus gezeigt hat, wie man mit ein bisschen Farbe das Bürgertum ärgern kann.
Das Bürgertum im grossen Stile genervt haben ab den 1930er-Jahren mexikanisch-amerikanische Jugendgangs in Los Angeles. Sie gehörten zu den ersten, die sich den öffentlichen Raum in Gruppenform zur Leinwand ihrer Kritzeleien machten. Hartnäckig haben die tendenziell eher randständigen Jugendlichen Strassenschilder, Gehsteige und Häuserwände mit dem Schriftzug «Con Safos» oder «C/S» markiert. Wortwörtlich übersetzt heisst das etwa so viel wie mit Respekt. Graffiti-ExpertInnen behaupten jedoch, dass die Botschaft von «Con Safos» eher mit gleichfalls oder euch dasselbe übersetzt werden müsste.
Wesentlich einsamer, aber mit ähnlichen politischen Zielen wie die Con-Safos-Gangs war Gérard Zlotykamien unterwegs. 1963 war er der erste Künstler Europas, der im öffentlichen Raum arbeitete. Damals noch illegal, versteht sich. Mit Kreide und Pinsel, später dann auch mit Sprühfarbe, zeichnete er symbolhafte Strichfiguren auf Häuserwände, Mauern und Denkmäler. «Les Éphémères» nannte er seine Kritzeleien, was so viel wie die Vergänglichen oder die vom baldigen Verschwinden Bedrohten heisst.
Inspiriert war Zlotykamien zum einen durch die eingebrannten Schatten der Opfer des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, zum anderen auch durch die Diskriminierung, die er als jüdische Person erleben musste. Er arbeitete oft die Nacht hindurch, im Wissen, dass seine Arbeiten nach wenigen Tagen wieder verschwunden sein würden. Schliesslich war das ein zentraler Punkt seiner künstlerischen Botschaft: Die Schwachen werden vertrieben, unsichtbar und mundtot gemacht.
In der Tradition der Gang-Tags im Stile der Con-Safos-Kritzeleien entwickelte sich in den USA eine Graffiti-Subkultur, die in den 1970er- und 1980er-Jahren ihre Blütezeit erlebte. Das Epizentrum bildete dieses Mal die Stadt New York City. In der Botschaft durchaus unpolitischer, aber in der Dreistigkeit wesentlich konfrontativer entstand in dieser Zeit das Graffiti, wie wir es heute kennen.
Meistens in Form einer kryptischen Buchstaben- und Zahlenfolge und in verschiedenen Farben an einen möglichst auffälligen Ort gesprayt sollen die sogenannten Graffiti-Pieces (auch Writing-Style genannt) ein Zeichen gegen den Kommerz, gegen den Kapitalismus und gegen die Vertreibung randständiger Menschen setzen. Oft wird dieser populären Form der Strassenkunst vorgeworfen, sie habe keinen Mehrwert für die Gesellschaft, da ihre Botschaft ja nicht entschlüsselt werden kann.
Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan sah das jedoch anders. Dass sich Menschen die Freiheit nehmen, öffentliche und private Plätze, die ihnen nicht gehörten, zu ihrer Leinwand zu machen, sei an und für sich schon ein deutliches politisches Statement. Nach seiner Medientheorie handelt es sich beim illegalen Sprayen um eine Art des Randalierens. Ein Protest gegen den Zustand, dass nur wenige darüber bestimmen dürfen, wie der öffentliche Raum aussieht. Vornehmlich die, die bezahlen können und so mit ihren überdimensionalen Werbeflächen das Stadtbild prägen dürfen.
Bevor sich der Writing-Style auch in der Schweiz durchsetzte, sorgte Harald Nägeli – in den bürgerlichen Medien als «der Sprayer von Zürich» bekannt – für Furore. Weil ihm die Stadt immer mehr uniformiert, grau und deshalb unbewohnbar erschien, fing er Ende der 1970er-Jahre damit an, die Limmatstadt mit abstrakten Strichfiguren zu verschönern. Sein Konzept: Es muss nicht «schön» sein, es muss die Logik der durchorganisierten Stadt stören. Was es in seinen Augen wiederum schön machen wird.
Die Behörden hatten nicht dieselben Augen wie Nägeli. Sie sahen seine Kunst als Vandalismus an und steckten ihn für neun Monate in den Knast.
Aber Nägelis rebellischer Geist hat trotz allem viel Bewegung in die Diskussion um die Spraydosenmalerei gebracht. Nach seiner Haftstrafe lebte er in Deutschland, wo seinen Ideen und Werken hohe Anerkennung entgegengebracht wurde. Er befreundete sich mit Kunstprofessoren und Museumsdirektoren, die sein Schaffen – auch in der Öffentlichkeit – derart lobten, dass sich die Stadt Zürich einmal gezwungen sah, seine überbleibenden «Schmierereien» als schützenswerte Kunst zu deklarieren. So hat sie im Jahr 2004 seinen weiblichen Wassergeist namens «Undine» an der Fassade des Deutschen Seminars der Universität kostspielig restaurieren lassen.
Nägeli und seine Sympathisanten aus der Welt der renommierten Kunst haben die Mehrheitsgesellschaft davon überzeugt, dass Kunst auch an einer Hauswand – und nicht nur im Museum – stehen soll. Aber diese Errungenschaft finden längst nicht alle toll. Leute von den Behörden, Leute von Kunstinstitutionen, ja sogar Leute aus der Werbebranche fingen im Zuge dessen nämlich damit an, sich zu überlegen, wo und wie sie sich die Strassenkunst zum Eigennutzen machen können.
Mittlerweile stellen zum Beispiel fast alle grösseren Städte legale Sprayzonen zur Verfügung. Was auf den ersten Blick wie ein nettes Beschäftigungsprogramm für kreative Jugendliche aussieht, stellt für viele SprayerInnen eine zielgerichtete Politik gegen die traditionelle und subversive Grafittikunst dar. Denn auch heute sehen viele im Sprayen – so sagte es ein deutscher Kulturwissenschaftler – ein «urbanes Statement gegen kommerziell erzeugten Massengeschmack und bürgerlichen common sense, das anarchistisch-kreative Denkanstösse gibt».
Wer also mit offizieller Genehmigung sprayt, ist laut diesem Codex diskreditiert. Denn er verschreibe sich nicht den antikommerziellen und den systemkritischen Gedanken, die dieser subkulturellen Praxis doch seit anhin zu Grunde liegen würden. Statt sich Platz und Raum in rebellischer From anzueignen, würden legale Sprayer – so die Kritik aus orthodoxen Kreisen – ihre Skills an den Feind verkaufen. Aus anarchistischer Sicht sind dies die Behörden, aber auch private Unternehmen. Zum Beispiel kauft sich der Automobilhersteller «Volvo» jedes Jahr die lässigsten Graffiti- und Streetartists, um sich an ihrem Marketingevent namens Volvo Art Session in Zürich West urban und jugendlich zu inszenieren.
Auch der vom Mainstream viel beachtete Banksy bleibt nicht frei von dieser Kritik. Zwar bleibt der britische Megastar der Streetartszene dem Codex treu und sprayt nur dort, wo er eigentlich nicht dürfte. Das Problem – und dafür kann er eigentlich gar nichts – ist, dass seine Werke auf derart viel Gefallen stossen, dass sie von der ersten Sekunde an als schützenswert gelten.
Seine Bilder wurden teilweise mit Plexiglasscheiben eingebuchtet, um diese vor Veränderung zu schützen. Andere wurden auch schon aus Wänden herausgesägt, um sie zu beachtlichen Beträgen auf Kunstauktionen versteigern zu können. Im Londoner Stadtbezirk Islington beschloss der Quartierrat sogar, die Graffitis von Banksy nicht nur nicht mehr zu entfernen, sondern sie zu schützen und regelmässig zu restaurieren.
All dies bringt Banksy eine Art Vandalismus-Monopol ein. Und zwar eines, das seine durchaus schönen und wichtigen Bilder schützt, während es den kleinen, krakligen Teenager-Tags teilweise sogar strafrechtlich an den Kragen geht.
Und da stellt sich schliesslich halt doch die Frage, wer dem System in breiterem Strahl ans Bein pisst: Der ästhetisch versierte Mainstream-Banksy oder doch das Teenie-Girl mit einem halbvollen Edding in der Hand und jugendlicher Rebellion im Herzen?