Heute erzählen wir euch, auf Wunsch von watson-User milkdefeater, die Sage des Scaläratobels. Aber lest sie besser nicht zu später Stunde, denn es wird gruselig!
Hoch oben im Churer Wald befindet sich das Scaläratobel. Der steile Hang erstreckt sich vom Grat des Fürhörnli bis zum Scalärarüfi. Die treppenartig aufsteigenden Höhenzüge der Roten Platte und des Hochgang, die das Tobel begrenzen, sind wahrscheinlich ausschlaggebend für den Namen des Tobels. Scalära bedeutet nämlich Himmelsleiter. Doch die schaurigen Geschichten, die man sich im Dorf über das Tobel erzählt, haben wenig mit himmlischen Begebenheiten zu tun. Vielmehr handeln sie von einem Ort, an dem man nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen sein möchte.
Stirbt ein böser Churer, so erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, wird er zur Mitternachtsstunde von zwei Kapuzinermönchen aus seinem Grab geholt. Unter Stöhnen und Ächzen muss er nun, in Begleitung der dunklen Gestalten, den beschwerlichen Weg ins Scaläratobel auf sich nehmen.
Der Pfad ist steil, steinig und mit Dornen gespickt. Für die geholte Seele gibt es jedoch kein Entrinnen. Die Mönche zerren und schleppen sie immer tiefer in den Wald hinauf. Bei Vollmond wirkt die Szenerie noch viel gespenstischer, wirft doch das Licht, das durch das Blätterdach scheint, seltsame Schatten auf den Boden.
Im Tobel angekommen, eröffnet sich dem verdammten Toten erstmals das ganze Ausmass seines Schicksals. Hunderte Churer Seelen büssen zwischen den lodernden und züngelnden Flammen für ihre üblen Taten. Von überall her hört man Schreie, Stöhnen und Gejammer, dass es einem durch Mark und Bein fährt.
Da wären beispielsweise die Politiker und Herren der Obrigkeit. Während ihrer Karriere haben sie ihre geschworenen Eide gebrochen und sich nie an ihr Wort gehalten. Als Strafe müssen sie sich nun die Finger abbeissen. Die Schreie, die sie dabei ausstossen sind kaum auszuhalten.
Schaut man nach links, sieht man dort, unter einer grossen Eiche, einen Steuereintreiber, der das ganze Geld, das er den Armen abgepresst hat, auf dem Rücken tragen muss. Seine Wirbelsäule scheint unter der schweren Last beinahe zu brechen.
Rechts davon sitzt der im Dorf allseits bekannte Spielsüchtige einsam auf einem Baumstrunk und ist dazu verdammt, seine gezinkten Karten zu verzehren. Die Augen des armen Tropfs liegen tief in ihren Höhlen und er ist bis auf die Knochen abgemagert.
Ganz besonders leiden aber die Rechtsanwälte. Weil sie sich immer nur gestritten haben, müssen sie nun als Strafe ihre eigene Zunge essen. Sie haben sie herausgeschnitten und braten nun das vor Blut triefende Stück Fleisch über dem Feuer, um es dann unter fürchterlichem Gejammer herunterzuwürgen.
Der Wirt, der auf einem Holzstrunk sitzt, weint und schreit um Gnade. Er muss das ganze Wasser trinken, mit dem er seinen Wein gepanscht hat. Sein Bauch ist geschwollen, sein Gesicht aufgedunsen und die Augen sehen so aus, als wollten sie ihm jede Sekunde aus den Höhlen springen.
Aber auch die Frauen sind an diesem gottverlassenen Ort vertreten. Sie müssen bis in alle Ewigkeit spinnen, weben und den schlammigen Boden des Tobels sauber wischen. Immer wieder stechen sie sich die Finger blutig und scheuern sich ihre Knie wund, während sie versuchen den harten Waldboden glänzend zu schrubben.
Immer zur mitternächtlichen Stunde scharen sich die verurteilten Seelen zusammen und reiten hoch zu Ross das Tal hinunter, um in den Fluten des Rheines ihre brennenden Körper zu löschen. Der hinterste der Gruppe führt viele junge Fohlen mit sich. Fragt man ihn wozu diese sind, antwortet er, dass sie für die Neuankömmlinge bestimmt seien.
In besonders kalten Winternächten tanzt die Geisterschar mit ihren grausam bleichen Gesichtern im Schnee. Die Klagelaute, die sie dabei von sich geben, sind bis tief ins Tal hinunter zu hören.
Wer diese Geschichte nicht glauben will, der soll die Bewohner der Trimmis fragen. Sie werden oft mitten in der Nacht vom Spuk überrascht und haben gesehen, was kein Mensch je zu Gesicht bekommen sollte. Wer jedoch des Nachts ins Tobel wandern will, der sei gewarnt. Es sind schon Menschen dorthin aufgebrochen, die nie mehr zurückgekehrt sind.
Quelle: Nach Der Gesiterspuk im Scalära-Tobel, Constanz Ciprian Fischer, Bündner Kalender 1903