Warnung! Der folgende Satz kann Lehrpersonen verstören: In der 1. Klasse im Kirchacker-Schulhaus waren wir 42 Schülerinnen und Schüler. Unter ihnen Italiener, Spanier, Jugoslawen, Türken, Ungarn, Tschechoslowaken – ein bunter Haufen. Die meisten wie ich aus der unteren Mittelschicht, Kinder von Arbeitern.
Wir wohnten in Neuhausen am Rheinfall, im Unterdorf, in einem der beiden Dreifamilienhäuser mit je einem Werkstattanbau, die mein Urgrossvater in den 1910er Jahren an der Rheinstrasse hatte erstellen lassen und die mein Vater übernahm. Gegen die SBB-Geleise erstreckte sich ein grosser Garten mit Obstbäumen, Büschen, Gemüsebeeten und einer Terrasse. Früher waren dort Rebhänge gewesen. Nun wurde in Neuhausen gebaut, als gäbe es kein Morgen. Das Kaff, in dem ich aufwuchs, war gleichzeitig: eine Boomtown.
Ich fand das cool. Denn es konnte sein, dass Schulkumpel Jürg Bührer mich und weitere Gspändli zum Rumplantschen einlud – in einem Schwimmbecken hoch oben auf dem Dach des zehngeschossigen Bührer-Hochhauses, das kühn aus dem einstigen Dorfkern ragte und wo Vater Bührer im Erdgeschoss ein Möbelgeschäft betrieb. Wenn uns im Pool langweilig wurde, füllten wir Ballons mit Wasser, schmissen die Bomben runter und lachten uns in Halbhysterie, wie die Leute auf dem Trottoir vor der neuen Migros erschreckt zur Seite sprangen, wenn so ein Geschoss einschlug.
In diesem supermodernen Migros-Markt, realisierten wir bald, konnte man die Coupons fürs Pfandflaschendepot selbst herauslassen. Also nahmen wir von zu Hause jeweils eine, zwei leere Flaschen mit und stellten sie in eine supermoderne Maschine, die sie klirrend aus unserem Blickfeld und ins Lager beförderte. Danach zogen wir ein Dutzend Coupons und wechselten sie mit treuherzigem Blick an der Kasse in Bares. Sorry, Migros! Fast immer war es Andres Nüesch, der Älteste unter uns, der mit diesem Geld Zigaretten kaufen gehen musste («für min Vater»). Wir standen auf die Mentholmarke «North Pole». Frisch, weisch – und ein schönes Päckchen. Rauchen gingen wir auf dem Felsen hinter dem Pontonierhaus zwischen Schaffhausen und Neuhausen, und schauten zu, wie die Züge auf der Linie nach Zürich vorbeifuhren.
Meine Eltern – und die meiner Kindheitsfreunde – waren die Antithese zu den überfürsorglichen Helikopter-Eltern von heute: Wir durften spielen, wo wir wollten. Wir spielten an den Bahngleisen, kletterten in Güterwaggons und 2.-Klasse-Wagen auf dem Abstellgleis, bis die Rangierarbeiter in ihren orangen Übergwändli irgendwann beschlossen, uns Angst einzujagen, und uns eines Tages Richtung Zürich wegrangierten. Wir sprangen aus dem fahrenden Zug und schlugen uns mit rasenden Herzen in die Büsche. Wir spielten am Rhein, an einer Schnur liess ich mein neues Böötli mit Motor zum Aufziehen schwimmen. Die Schnur löste sich, das Schiff trieb Richtung Rheinfall davon. Es war Herbst, das Wasser kalt. Ich konnte noch nicht schwimmen und wollte mein Boot zurück – also watete ich ihm auf glitschigen Steinen hinterher. Mit bis zur Hüfte pflotschnassen Kleidern kam ich zu Hause an, die Eltern waren eher not amused. Ich verstand das ein bisschen, aber mein Schiffchen war gerettet.
Später, als ich schwimmen konnte, machten wir uns sommers einen Spass daraus, uns rheinabwärts treiben zu lassen, und zwar weiter als bis zum Eisensteg, der Flurlingen mit Neuhausen verbindet. Dort war offiziell Schluss mit Schwimmen. Umso verlockender, sich weiter zu wagen. Der Rheinfall war nicht mehr so weit, vor allem aber gab es fiese Felsen knapp unter der Wasseroberfläche mitten in der Strömung, an denen wir uns zuverlässig die Beine blutig schlugen. Wir verglichen unsere Wunden und rannten wieder flussaufwärts. Denn wir wussten nicht, was wir taten.
Wir spielten Fussball auf dem Bahnhofplatz. Schmissen Steine in Richtung einer verfeindeten Bande Oberdörfler. Gurkten mit Trottinett und Velo durchs halbe Dorf und suchten uns die steilsten Wegchen aus, um runterzubrettern. Manchmal fuhr blöderweise gleichzeitig ein Auto vorbei und musste auf die Klötze. Der Kaff-Faktor hatte zur Folge, dass der Fahrer uns jeweils kannte, und zu Hause gabs ein Donnerwetter:
Ich hatte mehr als einmal einen Schutzengel. Aber das ganze Unterdorf war unser Spielplatz.
Unser erster Fernseher sah aus wie ein Möbel – ganz in Holz verpackt. An der Seitenwand gab es ein bierdeckelgrosses Rad, an dem man drehte, um den Sender zu wechseln. Viel zu drehen gab es nicht. Bei uns gab's den «Schwiizer» und «Tüütsch eis» (aka ARD). Ich war neidisch auf meine Freunde von der Gaswerkstrasse, Andres und Roli Nüesch: Sie hatten, crazy!, einen dritten Sender, den «Tüütsch zwei» (ZDF), und waren Scheissglückspilze, denn auf diesem Kanal lief «Raumschiff Enterprise». Allerdings bewiesen die Programmgestalter wenig Sensibilität und strahlten die Folgen jeweils dann aus, wenn es bei uns Abendessen gab. Dafür hätten sie den vulkanischen Nackengriff verdient!
Ein erstes TV-Highlight war die Abfahrt von Bernhard Russi in Gröden, wo er 1970 als Nobody Weltmeister wurde: Die Zeit eingeblendet in riesigen Digitalzahlen am unteren Rand der Schwarzweissbilder, dazu die bebende Stimme von Reporter Karl Erb, der sich in Ekstase gospelte und weinte, als der junge Russi seinen grossen Coup landete – all das steckte die ganze versammelte Familie an.
Apropos Unterhaltungselektronik: Mit 10 bekam ich meinen ersten Kassettenrecorder. Er hatte ein kleines Mikrofon, optimal, um es in die Hand zu nehmen und damit rumzuposen. Wenn ich vom Radio etwas aufnehmen wollte, platzierte ich das Mik vor dem Transistorgerät in der Küche und wartete, bis meine Lieblingssongs in der Schweizer Radio-Hitparade an der Reihe waren. Eine nicht undelikate Angelegenheit. Mein Dad war nämlich darauf spezialisiert, den Refrain von «48 Crash», «Seasons In The Sun» oder «Skweeze Me, Pleeze Me» zu verhunzen, indem er zur Unzeit in die Küche platzte und «Hast du deine Aufgaben gemacht?» polterte.
Gleich über die Strasse bei uns stand eine ehemalige Trotte. Das alte Gebäude wurde von der Papierwarenfabrik und der SIG als Lager genutzt, bevor die Gemeinde es kaufte und zum Kleintheater umbaute. Dort sah ich die allerersten Livegigs: Schwiegermuttertraum Dieter Wiesmann sang seine Lieder in Schaffhauserdeutsch.
Ich mochte den ganzen Klimbim mit farbigen Lichtern und Bühnenvorhang auf Anhieb – wie eigentlich alles, was ein wenig Entkommen aus der bleiernen Spiessigkeit unserer Familie versprach. Noch viel besser als die plitschplatschigen Wiesmann-Tunes gefiel mir allerdings, was Suzi Quatro machte: Lärm! Sie tat wild, spielte Bass in Lederoveralls und schrie rum. Ihr Starschnitt hing lebensgross über meinem Bett, Heldin meiner Frühpubertät – ich war verknallt, aber voll.
Wenn ich heute durch Neuhausen gehe, wirkt es ein bisschen angeschlagen. Das Haus, wo ich aufwuchs, steht noch, doch seit dem Tod meines Vaters ist es leer und verfällt langsam. Die Gemeinde schrumpfte, mutierte zur Agglo von Schaffhausen. Vieles verschwand, Läden, Häuser, Leute. Es mag Nostalgie mitspielen, aber ich liebe diesen Charme des leicht Abgetakelten, es gibt nach wie vor Nischen, schöne Ecken. Die Wohnungen sind günstig, und Neues ist hier einfacher möglich als anderswo.
Neuhausen war für mich vor allem eins: ein grosser Tummelplatz mit vielen Möglichkeiten Abenteuer zu erleben, Quatsch zu fabrizieren, zu spielen oder zu versuchen, sich einen Reim auf die Welt rundum zu machen. Diese Asozialisierung ohne Aufsicht von Autoritätspersonen wirkt bis heute nach. Ich mag das.