Allfällige Folgeschäden, die aus der Lektüre dieses Artikels resultieren, liegen komplett in deiner eigenen Verantwortung.
Der Philosoph Aurel Thomas Kolnai hielt in seinem vielleicht wichtigsten Aufsatz «Der Ekel» fest, dass es sich dabei um eine Abwehrreaktion handele. Er beschrieb den Ekel aber auch als ambivalente Gefühlsregung, ...
Dass der Künstler Salvador Dalí von Kolnais Thesen mehr als nur ein bisschen fasziniert war, zeigt sich unter anderem in seinem Film «Der andalusische Hund» mit der unsterblichen Augenszene, die den dadaistischen Film schon zu Schaffenszeit berühmt-berüchtigt machte.
Die gleiche Mischung aus Abscheu, Grusel und Faszination sorgt bei expliziten Horrorfilmen zu Schlangen vor den Kinokassen, lässt Autounfälle in lange Folgestaus ausarten und macht Wettessen zu Publikumsmagneten.
Und mich und drei Millionen andere verzückt deshalb auch jede neue Folge auf dem Youtube-Kanal der kalifornischen Spezialistin für Hautkrankheiten.
Bald eine Milliarde mal wurden ihre kleinen Kunstwerke bereits angeklickt. Die Zeitschrift New Yorker und die Cosmopolitan haben ihr bereits längere Portraits gewidmet.
In ihren Videos hilft sie Menschen. Menschen, die unter Lipomen, Zysten und anderen Wucherungen leiden. Mit chirurgischer Ruhe, menschlicher Wärme, absoluter Gelassenheit und gnadenlos explizit schafft sie Abhilfe. Die Kamera hält voll drauf, wenn sie tief in den menschlichen Körper schneidet und mit ehrlicher Begeisterung ganze Berge von Eiter und faustgrosse Fettgeschwülste aufspürt, mit den Fingern aus ihrem fleischigen Versteck pult oder – im besten Fall – poppend aus dem Patienten quetscht.
Das ist so unglaublich befriedigend wie beunruhigend. Mehr als ein, zwei Videos am Stück schaffe ich selten, bevor sich meine Magengegend drohend in mein Bewusstsein drängt. Was es jedoch genau ist, das mich immer wieder zu ihrem Kanal zurückkehren lässt, ist nur schwierig in Worte fassen.
Ich bin zum Beispiel auch ein Fan von Bob Ross. Dem Typen mit dem Lockenkopf, der mit Pinsel und Zen-Stimme durch kitschige Gemälde und die Nacht führte. Es war wohl seine Unaufgeregtheit, mit der er auch bei mir eine grosse, innere Ruhe bewirkte. Die Klarheit, mit der jederzeit nachvollziehbar wurde, was er da tat, was er vorhat und was als nächstes passieren wird. Und das Resultat war immer so schön sauber und aufgeräumt. Nicht, dass ich mir das an die Wand hängen würde.
Ich möchte auch keine offenen Wunden und Berge von Eiter auf meinem Nachttisch finden. Doch ich geniesse es, mich zu gruseln. Genau herauszufinden, wo meine Grenzen des Erträglichen liegen und immer mal wieder etwas an ihnen zu zerren. Ich muss mich dazu nicht ständig in der roten Zone aufhalten, kurze Stippvisiten reichen völlig aus. Dabei helfen entweder die Filme von Rob Zombie, oder, nachhaltiger weil tatsächlich wissensvermittelnd, medizinische Lexika.
Und nicht zuletzt habe ich mich schon immer dafür interessiert, wie die Rädchen zusammenspielen. Wie A und B zusammenhängen und welche Mechanismen dazwischen liegen. Das betrifft zwar auch industrielle Prozesse. Doch besonders die Natur hört nicht auf, mich zu überraschen und immer neu zu überwältigen: Die Universalität der Naturgesetze, die Logik und Abwegigkeit der Lösungen, die die Evolution, die das Universum gefunden hat.
In der Kombination dieser Faktoren finde ich mich immer wieder mal vor dem Bildschirm, mit auf Dauer immer enger zusammengekniffenen Augen, und lasse mich entführen in das Mysterium der Pathologie. Dabei grusele mich abgrundtief, leise lächelnd vor Staunen und Verblüffung. Schön, gibt es Dr. Sandra Lee.
Der Vollständigkeit halber:
Es gibt zu diesem Thema eine ganze Szene, die noch viel weiter geht. Das tue ich mir persönlich dann zwar nicht mehr an, aber euch sei zumindest der Weg zu diesem weiten Feld des Ekels nicht verwehrt. Hier lang.