«Früher haben die Leute mehr Stil gehabt», sagt Marie. Die Studentin wohnt in einer Altbau-WG, ihr Zimmer ist mit Möbeln vom Flohmarkt eingerichtet. Das lila Sofa mit Samtbezug hat «nur 50 Franken gekostet». Ihre Kleiderstange ist berstend voll – auch dank Secondhand-Klamotten. Im Wohnzimmer steht ein alter Plattenspieler, auf dem Tisch daneben eine rote, antike Kaugummi-Maschine.
Sich wahlweise wie die eigenen Grosseltern oder die älteren Geschwister in den Neunzigern zu kleiden, ist in gewissen grossstädtischen Milieus Normalzustand. Die «retroeske Überästhetisierung» des eigenen Lebens ist dabei längst nicht mehr auf den Wohn- oder Kleidungsstil von vermeintlichen Hipstern beschränkt. Werbe-, Film- sowie Medienbranche haben erkannt, dass mittels nostalgischem Markenbranding finanziell einiges zu holen ist.
Wie überzeugt man Konsumenten, die alles haben? Martin Dräger ist Geschäftsführer von Unruly Deutschland, einer Agentur, die sich auf Social-Video-Kampagnen spezialisiert hat. Er beschreibt auf Lead Digital, warum viele Firmen zu nostalgie-basiertem Marketing greifen. Der wehmütige Blick in die Vergangenheit, so Dräger, rückt das Gefühl sozialer Verbundenheit in den Vordergrund, senkt die Priorität des Verbrauchers, Geld zu sparen und erleichtert so Konsumausgaben. So sind auch die, die keine Lust auf Fast-Fashion haben nicht vor geschickter Werbung gefeit.
Drägers Überlegungen kommen nicht von irgendwoher. Der Brand-Power-Index der amerikanischen Fachzeitschrift Adweek, der Marken nach ihrem Social Media Buzz (Menge von Erwähnungen im Social Web) und Online-Suchanfragen listet, hat 2016 Korrelationen zwischen einem nostalgischen Markenbranding und einem Anstieg des Interesses in der Online-Welt erkannt. Jack Daniels konnte mit seiner «Legend»-Kampagne einen 27-prozentigen Zuwachs im Brand-Power-Index erzielen. Im Clip ist Musik von Mudhoney und Joey Ramone zu hören, darüber spricht eine tiefe Stimme:
Auch Coca-Cola bemühte sich, vorne im Nostalgie-Segment mitzuspielen und brachte 2015 in Deutschland «Fanta Klassik» in die Läden. Die «unverkennbare Ringflasche, ja, die von damals», wie es im Spot heisst, macht sich bestimmt auch 2017 gut in Maries Küchenregal.
Der Begriff Nostalgie tauchte erstmals in einem medizinischen Zusammenhang auf. Der Schweizer Arzt Johannes Hofer (1662-1752) beschrieb damit in seiner Dissertation ein krank machendes Heimweh, das besonders Söldner betraf. Inzwischen versteht man darunter eine sehnsuchtsvolle Hinwendung zu vergangenen Gegenständen oder Praktiken.
Sarah (Name geändert) ist Social-Media-Redaktorin bei einem der grössten Verlage Deutschlands und denkt sich regelmässig Retro-Listicles aus. Ideen generiert sie aus ihrer eigenen Vergangenheit. Jeden Tag wird in ihrer Redaktion ein Thema vorgeschlagen und umgesetzt, das zur Nutzer-Identifikation beiträgt. Inhalte also, die mittels Bildern, Fotos oder Statements persönliche Aspekte des Lebens aufgreifen.
Eigentlich könne man so ziemlich alles wiederverwerten, so Sarah. Süssigkeiten, Furbys, Filmmomente aus «Kevin – Allein zu Haus», die Spice Girls. All das, was «Bravo» geschrieben hat, kann recycelt werden. Ermüdungserscheinungen bei den Usern kann Sarah bislang nicht bestätigen.
Mitte 2016 war «Pokémon Go» ein beliebtes Thema. «Jeden Tag haben wir dazu etwas anderes gebracht. Kommentare, Videos beim Spielen. Die Debatte um Pokémon-Lockmittel, die Spieler an bestimmte Orte bringen sollten.» Ende des Sommers war der Hype wieder vorbei, das marketinggerechte Revival eines Klassikers verkam zum verhassten Smartphone-Nervfaktor.
Welche Erkenntnis bleibt nach der Pokémon-Affäre? Im Marketing verkörpert die Vergangenheit ein wichtiges Mittel für das Erreichen von Unternehmenszielen. Sind Konsumentenbedürfnisse mit der Vergangenheit verbunden, so werden diese laut der auf Marketing spezialisierten Forscherin Tina Kiessling zu einem wesentlichen Ansatzpunkt für die Vermarktung.
Sie unterscheidet grob zwischen persönlicher und historischer Nostalgie. Einige Konsumentengruppen sind bezüglich ihrer eigenen Vergangenheit nostalgisch, andere verehren explizit eine nicht selbst erlebte Vergangenheit – zum Beispiel die 70er. Auch, wenn sie damals noch gar nicht auf der Welt waren. Ein Paradox?
Die Bewunderung für eine bestimmte Zeit kann früh zum Bestandteil der eigenen Identität werden, so Kiessling. Man denke nur an Menschen, die stolz Vinyls aus den 60ern sammeln. Während sich manche ausschliesslich aus dem Bedürfnis nach Wissen für eine Epoche begeistern, empfinden andere aufgrund des Wunsches nach sozialem Anschluss und hedonistischer Freude eine Verbundenheit mit diesem speziellen Zeitraum.
«Jetzt, wo alles überall und jederzeit verfügbar ist, ist nichts mehr besonders. Dadurch wirken Entwicklungen manchmal selbstverständlich», so Michael Haller, Werbefilmer bei der Agentur Jung von Matt in Hamburg. «Dass jeder in Sekunden eine Nachricht nach Amerika schicken kann, wird nicht als Wunder gesehen, im Gegenteil. Heute schreibt man eine Nachricht nur per Hand, wenn sie eine besonders hohe Wichtigkeit hat.»
Ob der Trend wieder vorübergeht? «Ich denke, dass es Retro immer geben wird», so Haller. «Die fokussierten Dekaden werden sich lediglich abwechseln.» Dass Konsumenten bewusst nach einer nostalgieerweckenden Werbung verlangen, glaubt Haller nicht. «Um ein Produkt auf der emotionalen Ebene an den Kunden zu binden, kann man den Hebel allerdings sehr wohl nutzen.»
Laut Haller entsteht Nostalgie dann besonders stark, wenn etwas in der Zukunft unmöglich wird. Es ist der verstorbene Grossvater, der jede Weihnachten die Kerzen auf dem Baum angezündet hat, weswegen sich das Fest nach seinem Tod nie wieder so anfühlen wird wie früher. Nostalgie per se schlechtzureden, findet Haller falsch. «Allerdings muss man aufpassen, dass sie nicht die Gegenwart einnimmt.»
Anders als die medial geteilte Vergangenheit ist die private Nostalgie eine eher einsame Angelegenheit. Dass Menschen vor allem in traurigen Zeiten nostalgisch werden, kann als eine Art natürlicher Abwehrmechanismus gewertet werden. «Vergangene Zeiten», schreibt Kiessling in ihrer Forschungsarbeit, «bieten einen Zufluchtsort vor einer Reizvielfalt, einer schnell wechselnden, als wert- oder stillos empfundenen Gegenwart.» Werbung und journalistische Produkte können da für den gewünschten Wohlfühl-Effekt sorgen.
Obwohl es das Nostalgie-Konstrukt nicht erst seit gestern gibt, unterscheidet sich der omnipräsente Trend heute in einem wesentlichen Merkmal von den Gefühlen von damals. Teenager und Twenty-Somethings der 2010er haben ein mächtiges Werkzeug, um anderen ihre Emotionen zugänglich zu machen: das Internet. Auf Social-Media-Kanälen wird das Ich permanent nach aussen getragen.
Filme via Fire Stick streamen – aber gleichzeitig Angst vor Amazons Macht haben. Wohnen wie die eigenen Grosseltern – und dabei in Echtzeit via Twitter informiert werden. Es macht den Anschein, als hätte die westeuropäische Bevölkerung im vergangenen Jahrzehnt genug Technik gesehen, um sich wieder nach lackierten Möbeln der Nachkriegszeit zu sehnen.
Dort, wo in den frühen 2000er-Jahren Mittelschichtskinder nach dem neuesten Nokia-Modell schrien, steht heute ein Biedermeier-Schrank auf dem Wunschzettel. Ein schlichtes Prestigeobjekt, das im Überfluss des Postkapitalismus auffällig nach Bildung und Expertentum riecht. Die alte Regel gilt also immer noch: Anders zu sein als die anderen – selbst wenn es bedeutet, sich durch historische Nostalgie soziale Anerkennung zu erschleichen. Trotz aller Bemühungen schafft die permanente Wiederbelebung und Imitation der Vergangenheit lediglich eine kurzzeitige Verblendung.
Zumindest nicht so, wie sie das gängige Narrativ darstellt. Kein Sepia-Filter, keine italienische Karottenhose, keine Fuji-Sofortbildkamera in Neuauflage und kein lieblos programmiertes Pokémon-Revival wird sie den Menschen zurückbringen.
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