Als Teenager dachte ich am liebsten über Selbstmord nach. Ich zog mich in mein Zimmer zurück und überlegte, meinem Leben ein Ende zu setzen. Gründe dafür fand ich viel zu viele. Alle paar Tage einen neuen. Eigentlich hatten sie immer mit unerwiderter Liebe zu tun. Komischerweise kam ich bei konkretem Bullying nie auf die Idee, mich töten zu wollen. Irgendwie war das zu konkret.
Meine Lieblingsmethoden waren: Tabletten, erhängen, die Pulsadern aufschlitzen. Und während ich darüber nachdachte und versuchshalber mit einer Schere ein bisschen an meinen Pulsadern rumkratzte, wusste ich genau: Ich bin viel zu wehleidig für sowas. Ich bin viel zu feige. Zum Glück. Total traurig war ich trotzdem.
Ich hab mich nie wieder in die Jahre zwischen 14 und 18 zurückgesehnt. Sie taten weh wie fast nichts mehr nachher. Als hätte sich nicht nur der Körper, sondern jede Faser der Seele in völlig unkontrollierbaren Wachstumsschüben befunden. Und nichts lag mir ferner als Selbstironie. Ich fühlte mich als Opfer, Opfer, Opfer. Von sozialen Medien hatte damals noch kein Mensch gehört.
«13 Reasons Why» ist der wohl grösste Netflix-Serien-Erfolg aller bisherigen Zeiten und die aktuelle Streaming-Nummer-1 (auch in der Schweiz. Und: der Skandal. Weil Erwachsene befürchten, dass darin der Suizid einer 17-Jährigen glorifiziert würde. Echt? Stellt man sich diese Frage ernsthaft angesichts struber Gewaltdarstellungen, die jeden Abend um 20.15 Uhr auf irgendeinem Sender bei «CSI» anfangen?
Doch schauen wir zuerst einmal, was da eigentlich los ist. Die Apotheker-Tochter Hannah Baker ist die Neue in der Highschool-Klasse. Sie braucht verzweifelt Freunde, nervt in ihrer Mischung aus Bedürftigkeit, sozialem Übereifer und Selbstmitleid enorm. Sogar grauenhaft. Und dann noch der banale Abgrund ihrer Tiefgründigkeit!
Hannah begeht jeden Fehler, den mein 17-Jähriges Ich in ihrer Lage auch begannen hätte. Aus ihrer Unsicherheit wird Ungeschicklichkeit, was schliesslich dazu führt, dass sie zum naiven Versuchsobjekt der andern wird. Sie wird so vielfältig geplagt und missbraucht, dass sie schliesslich als Sinnbild für alles Teen-Elend dieser Erde endet.
Doch Hannah hinterlässt der Nachwelt 13 Tapes. Sie spricht ihre Qual, die übers Internet gnadenlos vervielfältigt wird, auf ein uraltes Medium. Auf sechseinhalb Maxell-60-Kassetten. Hannah ist im Jahr 2000 zur Welt gekommen. Brauchte man da noch Kassetten? Nicht, oder?
Diese Kassetten werden nun von allen, die ihr zu Leide gelebt hatten, gehört. Vor allem aber von dem netten Jungen namens Clay. Der mit wachsendem Weltekel und zunehmender Selbstzermürbung zum Schluss kommt, dass sie alle – auch er – Hannah getötet haben. Die Tote wird zur Rachegöttin. Was ihr aber natürlich auch nichts nützt. Das Reden über ihr Leid gleicht einer Psychotherapie, die ins Nichts führt. Man kann Cyberbullying nicht mit Kassetten besiegen.
Zwei strukturelle Phänomene bleiben trotz ihres Todes bestehen, und sie müssten all den Erwachsenen genau so viele Sorgen machen wie die dreiminütige Sequenz von Hannahs Sterben in der Badewanne. Sie heissen: Frauenfeindlichkeit und Narzissmus. Der Narzissmus hat jeden der Teens aus «13 Reasons Why» fest im Griff.
Womit wir bei der Hauptfigur von «13 Reasons Why» wären. Nein, nicht bei Hannah, sondern bei Selena. Die wichtigste Social-Media-Influencerin von Teenagern weltweit, Selena Gomez, hatte sich die Rechte der Buchvorlage zur Serie nämlich schon mit 15 gekauft. Als sie selbst ein geknechteter, depressiver Teenie war und im gleichnamigen Roman von Jay Asher ihre Heimat fand.
Sie selbst wollte Hannah spielen. Doch die Jahre vergingen, und plötzlich fühlte sich Selena zu alt für Hannah. Aber das «Genau so ist es»-Gefühl des Buches empfand sie noch immer. Jetzt ist sie die Produzentin der Serie. Und alle Teens, die es sehen, sagen: «Genau so ist es.» Jedenfalls in Amerika. Und ein bisschen auch bei uns.
Die Einsamkeit macht die Bösen so böse und die etwas Besseren so unglücklich. Isoliert sind sie am Ende alle, die Kontrolle, die sie über ihr Image auszuüben glauben, kontrolliert sie selbst. Empathie ist beim Selfie-Schiessen, Basketball-Spielen, Gedichte-Schreiben oder Stalking-Fotos-Machen echt nicht nötig. Hannahs Tapes sind narzisstisch. Die kollektiven Trauerrituale (samt Trauer-Selfies-Schiessen) der andern sind narzisstisch. Die Idee, dass man sich überhaupt um jemanden kümmern könnte, kommt erst, wenn Leute zu Krüppel gefahren oder tot sind.
Die Sache mit der Frauenfeindlichkeit ist ganz und gar beelendend. Für die Jocks sind Mädchen nur dazu da, um möglichst kompromittierende Fotos online zu stellen und jede Party als Gelegenheit zur Vergewaltigung zu nutzen. Die Mädchen wiederum benehmen sich so konservativ, als wären es die Fünfziger. Keine sagt Nein. Keine wehrt sich. Und selbst der blasseste Junge ist ein eifriger Stalker. Hinterfragt wird das nicht. Weil es «genau so» ist? Das wäre ganz und gar zum Kotzen.
Er liegt ausserhalb der Schule und ist ihr gemeinsamer Arbeitsort. Ein altmodisches kleines Kino. Auch dies ist wieder so eine romantische Retro-Volte. Dorthin, wo Utopien und Träume mit aller Macht des Grossformats erzählt werden. Nicht auf den kleinen Leinwänden wie bei Netflix.