Der Applaus verklingt langsam, während sich Shai Maestro setzt, den Stuhl zurechtrückt und in die Runde, der im Kreis um ihn herum versammelten Zuschauer, lächelt. Er schliesst die Augen und überlegt. Alles ist ruhig, das Einzige, was zu hören ist, sind die Schritte des STAFFs auf dem Laminatboden. Alle Anwesenden warten gespannt.
Nach einer Minute spielt der Pianist zuerst einzelne Tasten, danach fängt er an, ein Lied zu spielen, dass mindestens 10 Minuten dauert. Die Augen hält er währenddessen immer geschlossen, nur kurz schaut er ab und zu auf seine Hände. Zuerst erklingt die Melodie nur zart und ruhig, hell und klar, während man von draussen den Wind pfeifen und den Donner grollen hört.
Bereits mit fünf Jahren fing Maestro an Klavier zu spielen. Jedoch mochte er Basketball lieber bis er 13 war. Denn dann packte ihn die Musikleidenschaft. Er spielte teilweise 10 Stunden am Stück, sobald er nach Hause kam. Mittlerweile würde er das aber niemandem mehr empfehlen. «Lieber zwei oder drei Stunden wirklich konzentriert üben», rät der Pianist. Shai Maestro ist einer der vielversprechendsten und talentiertesten Pianisten und Komponisten seiner Generation und arbeitete bereits in jungen Jahren mit dem bekannten Jazz-Bassist Avashai Cohen und dem Schlagzeuger Mark Guiliana zusammen.
Sie waren damals als Avashai Cohen Trio unterwegs. Im Jahr 2010 formte er das «Shai Maestro Trio», mit dem er auf Tour ging und bis zu 80 Konzerte pro Jahr spielte. Manchmal performte er sogar mit Gruppen, die von Chick Corea, einem mit 67 Grammys nominierten Jazz-Pianisten und Komponisten, geleitet wurden. Heute hat er sein eigenes Quartett, bestehend aus dem Kontrabassist Jorge Roeder, dem Trompetenspieler Philip Dizack und dem Schlagzeuger Ofri Nehemya.
Am Montagabend spielt der Tastenakrobat ein Privatkonzert für eine Gruppe Schüler der Kantonsschule Wohlen im Rahmen der Kulturwoche und des Songwritinglabors der Projektwoche. Am gleichen Abend spielt die Schweiz gegen Frankreich im EM Achtelfinale. Als Shai Maestro eine kurze Pause einlegt und sich noch einmal bei dem Veranstalter Stephan Diethelm bedankt, schreit dieser freudig: «Die Schweiz liegt mit 1:0 vorne.» Maestro lacht und beginnt die französische Nationalhymne zu spielen.
Der israelische Musiker bedankt sich an beiden Tagen mehrmals ausführlich beim Publikum und beim Organisator. Er spricht nicht viel, sondern lässt seine Musik für ihn sprechen. Er erklärt: «Es geht nicht um mich, deshalb funktioniert es. Ich versuche nicht auf die Bühne zu gehen und jemanden zu beeindrucken», und: «Die Musik braucht mich, damit ich für sie da sein kann.» Aber natürlich brauchte es eine lange Zeit diese Haltung zu entwickeln: «Ich war sehr arrogant in der High-School.»
Die Klanglandschaften, durch die er die versammelten Leute führt, sind so unglaublich, dass viele einfach nur die Augen schliessen und die Klänge bewundern, die einen eigenen Verstand zu haben scheinen. Andere wippen mit ihren Köpfen, bewegen ihre Füsse oder Finger auf und ab. Aber niemand bleibt von den ansteckenden Melodien und Harmonien verschont, nicht einmal der Kameramann, der in Kreisen um die Vereinte Truppe herumläuft.
«Es geht ums Ausprobieren», sagt der charismatische Musikant. Schon ganz am Anfang des Konzerts erzählt der Künstler offen, dass er noch nicht wisse, was er spielen werde. Im Verlauf des Konzerts scheint er oft abwesend zu sein und sich voll den schwarzen und weissen Tasten hinzugeben. Oft summt und murmelt er im Takt mit. Das Tempo und auch die Stimmung der einzelnen Stücke ändern sich, ohne dass es einem im Moment bewusst auffallen würde. Und plötzlich erwacht man aus einer Art Trance und wird erneut überrascht.
Mitte Aufführung am Sonntag verrät Maestro uns die Inspiration für das heutige Konzert: Die Kirchenglocken von Muri. «Ich mochte die Akkorde sehr», so der Pianist. Nach dem Act verrät Maestro noch mehr mögliche Inspirationen seinerseits: «Der einfache Mann auf der Strasse der putzt, eine Vorlesung von Dalai Lama, Kendrick Lamar, Dubstep… es könnte wirklich alles sein.»