Alles hat seine Zeit, nichts ist verloren. Jede Umarmung, jeder Kuss, jede körperliche Vereinigung, aufbewahrt in einer Art sensorischem Speicher, ist das nicht wunderbar? Für Björk ist es auf jeden Fall ein Geschenk, wenn sie auf ihrem neuen Album ihrem scheidenden Liebhaber in dem Song «History of Touches» erklärt, «every single touch» und «every single fuck» seien unauslöschlich abgespeichert in ihr. Ein Archiv der Berührungen, was für eine Idee, ihre Umsetzung würde die Welt verändern.
Björk ist zurück. Maschine und Mensch. Wandelnde Kunstinstallation und wuchtiges Gefühlsknäuel. Auf dem neuen Album «Vulnicura», dem besten der Sängerin seit den Neunzigerjahren und das erste seit ihrem multimedialen «Biophilia»-Naturkunde-Referat 2011, ist sie mehr denn je in all diesen gegensätzlichen Extremen präsent.
Auf dem Cover sehen wir sie in einer schwarzen Latexhülle, die wie auf die Haut gegossen wirkt, Kopf und Oberkörper sind geschmückt von bunten, antennenartigen Stäbchen. Die Frau ist auf Empfang gestellt.
Und deshalb auch schlau genug, die Veröffentlichung ihres neuen Albums zumindest in digitaler Form acht Wochen vorzuziehen, nachdem es geleakt wurde. Der ursprüngliche Erscheinungstermin sollte mit einer grossen Ausstellung über Björks Schaffen im New Yorker Museum of Modern Art sowie mit der Veröffentlichung ihres Buches «Björk: Archives» zusammenfallen. Jetzt gibt es erst mal nur das Album, aber das ist so reich an Klang und Ideen, dass wir mit der Rezeption fürs Erste ausgelastet sind.
In den besten Momenten von «Vulnicura» fühlt man sich an das Meisterwerk «Homogenic» von 1997 erinnert. Damals hatte die Isländerin verwegen verwinkelte und verwehte Streichquartett-Passagen mit Beats von Mark Bells Elektro-Erneuerer LFO unterlegen lassen. Kammer-Techno mit tiefen Bässen wie man ihn zuvor noch nicht gehört hatte.
Wer Björk zu dieser Zeit traf, konnte sich mit ihr ausführlich über die vertrackten Geigenarrangements des Jazz-Akademikers Eddie Sauter unterhalten und gleich darauf wütende Tiraden über die Raushalter-Religion Buddhismus provozieren. Wie hiess es noch in einem Björk-Song dieser Ära? «I'm no fucking Buddhist.»
Eine Buddhistin ist sie wohl immer noch nicht. Denn trotz des rigorosen Innovations- und Kunstwillens, trotz der Vision von eigenen, in sich geschlossenen Klangräumen, trotz einer weiteren optischen Präsentation als Mensch-Maschine ist «Vulnicura» von der Idee der Unperfektheit der eigenen Person und von der Verzweiflung über die eigenen emotionalen Unzulänglichkeiten angetrieben. Gut so. Was bleibt uns auch anderes übrig, als uns immer mal wieder das eigene Versagen vor Augen zu führen, wenn wir nicht ausgeglichen bis zum Scheintod werden wollen.
In diesem Jahr wird Björk 50 Jahre alt, die unterschiedlichen Kunstfiguren, die sie kreiert und gespielt hat, sind demnächst im Museum zu bewundern - als totes Exponat taugt sie trotzdem nicht. Alles bleibt in Bewegung, alles bleibt schwierig. Zu elegischen Geigern barmt Björk deshalb gleich am Anfang: «Once it was simple / One feeling at time / These abstract und complex feelings / I don't know how to handle them.»
Ein schöner Einstieg in diesen Ego-Trip in die eigene Überforderung, in die schwarze See der Erinnerungen.
Wo vor fast 20 Jahren LFO für die allermodernste elektronische Grundierung sorgte, da ist es diesmal der venezolanische DJ und Produzent Arca, Entdecker des R'n'B-Wunderkinds FKA Twigs und Schöpfer teuflisch nachhallender Elektro-Schlieren. Für Björk lässt er es arktisch krispeln und knuspeln, kratzen und bratzen. Etwa wenn sich in der Mitte des sakralen «Black Lake» auf einmal ein massiver Beat auftürmt. Als würde ein Eisberg zerbrechen und in der See versinken. Abstrakte Töne, grosse Gefühle.
Bleibt in unserem sensorischem Speicher, dieses Album. Wenn nötig, die nächsten 20 Jahre.