«Es gilt, Seele an Seele zu hauchen, wo der Ausdruck fehlt, reden nur die Lippen in heiliger, keuscher Vermählung. Alle irdische Seligkeit, Liebe, Wohlwollen, Treue, Innigkeit hat sich in ihren Spitzen conzentriert», ist im Damen Conversations Lexikon von 1834 unter dem Stichwort Kuss nachzulesen. Aber: Nachdem sich ein herzerwärmender Kuss-Clip als mieses PR-Possenspiel entpuppt hat, ist gar nichts mehr heilig.
Im Internet ist die Empörung ob der Scharlatanerie gross.
genervt von #firstkiss wie es den kuss degradiert und nun auch noch:
Die Geschichte hinter "First Kiss" von PIlieva http://t.co/7SNi4KJV3D
— julakim (@julakim) 12. März 2014
Jetzt fanden alle "First Kiss" toll oder doof. Warte jetzt auf die ersten Toll-Finder, die die Doof-Finder beschimpfen.
— die ennomane (@ennomane) 11. März 2014
Nooooo! MT @martingiesler: Die Liste der Models, die sich vermeintlich zum ersten Mal küssen - “First Kiss” und so: http://t.co/iXlD58xfSH
— ThomNagy (@ThomNagy) 11. März 2014
Kein Wunder, dass der Judaskuss nicht gut ankommt: Im digitalen Zeitalter sehnen sich die User nach Emotionen, wie stellvertretend ein Beitrag des Schweizer Blogs niitakaa's diary zeigt:
«gesehen... mit einem grinsen auf den lippen... geschmolzen... #hach wie schön... und zitat: ‹die welt ist doch ein guter ort #doppelhach› ...weiter geteilt... lyrics vom song auseinander genommen... so let's love fully let's love loud let's love now coz soon enough we’ll die... #imfau»
Wer die Wahrheit hinter der Romanze thematisiert hat, bekam offenbar Gegenwind.
Ich wurde gestern dafür angefeindet, dass ich die Story hinter "First Kiss" erklärt habe. Da hat das Marketing wohl alles richtig gemacht.
— martingiesler (@martingiesler) 12. März 2014
Und natürlich bietet der Clip auch Anlass für Medienkritik, denn im Clip wird nicht nur der Hersteller der Modemarke erwähnt, sondern auch die Namen der handelnden Akteure aufgelistet.
„Wenn selbst Journalisten nicht mehr zwischen Werbung und Inhalt unterscheiden können, dann wird Werbung zum Inhalt.“ http://t.co/o7DbV0zSpv
— Nick Lüthi (@nick_luethi) 12. März 2014
Noch einmal zu »First Kiss« - hat echt jemand gedacht, das sei ein Dokumentarfilm?
— Philippe Wampfler (@phwampfler) 12. März 2014
Die Vertreter dieser Medien, sonst nicht gerade auf den Mund gefallen, nehmen sich die Kritik mal mehr, mal weniger zu Herzen. Der Tages-Anzeiger vermeldet vorsichtig, das Video sei «angeblich ein Fake» und fragt verunsichert: «Stört uns das? Wir meinen: Keineswegs.»
Wie man es richtig macht, zeigen dagegen mal wieder die Niederländer: Sie haben bereits ein Trittbrettfahrer-Video namens First Kiss Amsterdam online gestellt. Wer genau hinsieht, bemerkt jedoch einen Werbe-Hashtag – denn auch diese Aktion ist bloss Reklame. Dahinter steckt der TV-Sender BNN.
Doch es gibt auch Zuschauer, die den Clip verteidigen. «Ich gehörte zu denen, die gestern das ‹First Kiss›-Video geteilt haben. Dabei gehöre ich – ganz offensichtlich – zu den ‹Bedeutungsjunkies›», outete sich die deutsche Bloggerin Metamädchen. «[Kaum jemand hat] es je geschafft, mich einen ganzen Morgen lang zum Grinsen zu bringen und mir das ‹Frisch verliebt›-Gefühl zurückzugeben.»
Ihr Beitrag heisst: «Die Deutschen und der Frust» – und den Clip habe sie verbreitet, weil sie «genau das Gegenteil von Frustration verspüre».
Ob nun Schweizer oder Deutsche: Die einen fühlen sich hinters Licht geführt, die anderen bleiben von der Romantik-Reklame geblendet. Was steht im Damen Conversations Lexikon von 1834 unter Lüge? «Die absichtlich geäusserte Unwahrheit. Ueber die sogenannte Nothlüge frage Jeder sein Herz, ein anderes Gericht urtheilt darüber nicht.»