Früher kamen Menschen, die anders als andere sind, auf dem Jahrmarkt unter. Wer zu gross gewachsen war, wurde zum «Riesen» gemacht, biegsame Damen wurden zu «Schlangenfrauen» erklärt und wer über-normal behaart war, wurde als «Wolfsmensch» zur Schau gestellt.
Heute ist das ähnlich und doch völlig anders. 2015 werden Menschen mit Behinderungen «zur Schau gestellt», weil sie heutzutage als Werbeträger entdeckt worden sind. Sie werden nicht mehr angegafft, sondern repräsentieren: In Model-Agenturen und Reklame-Büros wird ein Zeitenwechsel eingeläutet.
Der Wandel steckt zum Teil noch in den Kinderschuhen – so wie beim Mode-Portal «Freshly Picked», wo die Leder-Moccasins für Kinder auch von einem Jungen mit Downsyndom beworben werden. Der kleine Welles ist nicht nur Model, sondern auch Vorbild: Seine Mutter Oackley will mit der Website «Nothing Down About It» – frei übersetzt: kein Grund, down zu sein – anderen Eltern Mut machen, deren Kinder ebenfalls an der Krankheit leiden.
Hinter Madeline Stuart steht ebenfalls eine starke Mutter. , nachdem sich das Mädchen mit Downsyndom via Social Media einen Namen machte. Zuletzt wurde Madeline für Werbekampagnen der Handtaschen-Hersteller «everMaya» und für den Sporartikelproduzenten «Manifesta» gebucht. Dabei hatten die Ärzte ihrer Mutter Rosanne Stuart stets erzählt, sie solle ja nicht hoffen, ihre Tochter könne etwas erreichen. Mitte Mai tauchte die 18-Jährige in der internationalen Presse auf
«Ich habe in meinem Leben oft geweint», räumt Rosanne Stuart ein. «Es passierte zumeist dann, wenn normalerweise Meilensteine erreicht werden sollten, die aber nicht kamen. Etwa den Führerausweis zu machen oder die nächste Schule besuchen.» Wütend wurde sie immer dann, wenn Ärzte von «solchen Leute» sprachen, als sie über Madeline redeten. «‹Meint ihr damit nicht meine Tochter, die das Downsyndrom hat?›, fragte ich dann.»
Sie habe sich darüber aufgeregt, aber weitergemacht, erklärt Rosanne. «Solange man lebt, gibt es auch Hoffnung. Solange es Hoffnung gibt, gibt es auch Freude und solange es Freude gibt, gibt es Lachen und Liebe.» Die Zeit hat der Familie Stuart recht gegeben – und ihr Glück motiviert inzwischen andere Eltern und deren Kinder. «Das positive Feedback ist wunderschön: Die Leute sagen, dass Maddy ihnen Hoffnung, Kraft und die Einsicht schenkt, dass die Zukunft gut sein kann.»
Die Mutter kann sich vorstellen, dass auch anderen Eltern von den Ärzten nicht gerade Mut gemacht wird. «Ich würde ihnen sagen, dass der Weg vor ihnen vielleicht nicht der ist, den sie sich vorgestellt haben, aber er wird dennoch so lohnend und voller Liebe sein, dass sie es niemals bereuen werden und dass sie sich nach einer Weile so gesegnet fühlen werden, wie ich es tue. Gib die Hoffnung niemals auf – und höre niemals auf, etwas zu versuchen!»
Madeline ist der lebende Beweis dafür. Mitte Mai hatte sie auf Facebook über 150'000 Likes, heute sind es mehr als 400'000. Knapp 50'000 Personen haben ihre Instagram-Bilder abonniert und auch auf Twitter sind die Stuarts mittlerweile aktiv. Der Lohn sind neue Werbeaufträge: «Wir freuen uns auf die kommenden Monate», sagt Rosanne. «Wir haben einen Vertrag mit ‹Glossigirl› für ein halbes Jahr unterzeichnet und werden nach L.A. fahren, um Shootings zu absolvieren. Danach geht es nach New York, um die Arbeit mit ‹everMaya› und einem anderen Klienten fortzusetzen.»
Und warum hätte Madelines Mutter gerne Kunden wie «Versace» oder «Gucci» im Portfolio, wie sie der «Huffington Post» eröffnet hat? Solche Markennamen seien eine Richtgrösse, antwortet die Australierin auf Nachfrage von watson. «Weil dann viele Leute zuhören werden. Leider legt unsere Gesellschaft viel wert auf materialistische Dinge.» Und erst wenn eine besonders materialistische Branche mit ihren hervorstechendsten Marken Models wie Madeline ernst nimmt, sei das Ziel erreicht.
Rosanne und Madeline Stuart haben hohe Ziele und Gutes im Sinn, doch spätestens wenn Namen wie eben «Versace» oder «Gucci» fallen, werden Kritiker auf den Plan gerufen, die der Mutter Egoismus oder übertriebenen Ehrgeiz unterstellen.
«Manchmal lese ich sowas und bin enttäuscht. Wenn diese Leute mich kennen würden, wüssten sie, dass ich mein Leben für Maddy geben würde.» Besser wäre wohl: gegeben hat. «Ich habe in den vergangenen 18 Jahren täglich 14 bis 17 Stunden gearbeitet, damit sie sich nicht um die Zukunft sorgen muss.» Sie stelle sich auch mal selbst in Frage, sagt Rosanne. «Aber das, worüber ich nicht weiter nachdenken muss, sind meine Fähigkeiten als Mutter».
Das Engegament der Stuarts zahlt sich aus. Ob es kleine Jungen wie Welles sind oder Mädchen wie Madeline: Ein Umdenken im Umgang mit Behinderten findet statt, und Menschen mit Downsyndrom müssen sich nicht länger verstecken, sondern punkten mit Natürlichkeit und Selbstbewusstsein. Körperliche Andersartigkeit ist in gesunder Normalität angekommen: Die unwürdige Freakshow auf dem Rummel war gestern – heute sind die Werbeanzeigen zu einer adäquaten Manege geworden.