Vancouver 2010, milchiges Flutlicht und unangenehmer Nieselregen, abruptes Ende eines Traums. «Wenigstens habe ich der Welt ein paar schöne Double Corks gezeigt.» Die Ledermedaille, der Platz des ersten Verlierers, ein Spruch zwischen grenzenloser Enttäuschung und humorvoller Selbstironie. Dann die Flucht, der totale Rückzug und die Ratlosigkeit: Was nun? Podladtchikov erinnert sich an jedes Detail jener kanadischen Mission, die für ihn schon unvorteilhaft begann: «Ich stürzte bereits beim ersten Drop-in. So will man in keiner Pipe der Welt einen ersten Trainingstag beginnen.»
Es ist viel passiert seit dann. Der beste Schweizer Snowboarder erfand sich nahezu neu. Podladtchikov durchleuchtete jeden Bereich, analysierte nächtelang, entwarf und verwarf Pläne, gewann in Abwesenheit von Shaun White zwei WM-Titel, wechselte den Hauptsponsor, organisierte seinen Stab neu, optimierte die Abläufe. Zur Stärkung seiner Athletik beschritt er unkonventionelle Wege. Spezialisten stiessen zum Team. In einer eigens gemieteten Fabrikhalle entstand ein zusätzliches Trainingszentrum – mit einem XXL-Trampolin und einer Skateboard-Halfpipe.
«Wir haben das Budget ausgereizt und gingen an die Schmerzgrenze, ohne sich dabei aber wehzutun wie etwa White», sagt Marco Bruni vier Tage vor dem finalen Showdown in Rosa Chutor. Ein paar Meter daneben doziert Podladtchikov. Alle Reporter interessieren sich nur für ihn. Im Zentrum gefällt es dem eloquenten Gesprächspartner. Er denkt, er habe sich verdient so positioniert. «Ich stehe heute da und bin einer der konstantesten Snowboarder auf diesem Berg – und zwar seit Jahren. Das heisst etwas.»
Shaun White hat er im Fokus, jahrelang bereits, ein paar andere «Spielverderber» (Bruni) auch noch. Aber im Prinzip wehrt sich Podladtchikov nicht dagegen, dass der Kampf um die begehrteste Goldmedaille im Snowboardsport inzwischen längst auf ein 1:1-Duell reduziert worden ist. Das mediale Spiel kommt ihm gelegen. Er verheimlicht sein immenses Selbstbewusstsein nicht, Podladtchikov ist für den grossen Flug bereit. «Die Leute schauen mir nicht zu, weil ich aus Russland stamme. Das sollte ein Statement sein.»
«Sochi, here I come», twitterte er am Tag der Ankunft – und veröffentlichte ein Eigenporträt mit dem Olympia-Slogan im Hintergrund: «Hot. Cool. Yours.» Die Message ist angekommen. Kein anderer Schweizer Sportler pflegt eine tiefgründigere Beziehung zum Land des Veranstalters als der 25-jährige Stadtzürcher. Der neben Shaun White spektakulärste Freestyler ist ein Kind Russlands. Der gebürtige Moskauer spricht immer wieder bewusst vom «Heimspiel» in Sotschi.
Die Rückkehr ins Land der Eltern zelebriert er. Das eigene Haus ausserhalb der offiziellen Teamunterkunft soll ein Ort der Begegnung sein – für seine Freunde, für die Familie – und eine ganz private Oase, ein Platz zur Besinnung, eine Quelle der Energie. Abschottung soll möglich sein, wenn er die letzten Details der Strategie mit seinem engen Vertrauten Bruni austauschen will. Subtile Kontrolle und eine angenehme Atmosphäre sind ihm gleichsam wichtig.
So hielt er es schon während der gesamten Saison. Immer wieder schuf sich Podladtchikov Freiräume, genehmigte sich Pausen, wenn er wieder spürte, «dass ich zu viel gemacht habe und bei Checks einen Vitamin-D-Mangel feststellte». Das temporäre Stillstehen ausserhalb der Pipe und der Trainingshalle empfand er während der minutiösen Vorbereitung auf den wichtigsten Contest seiner Karriere «als Schlüssel für alles. Ich versuche jeden Tag irgendetwas zu tun, das nur der Regeneration dient, das nur Heilung ist.»
Glaubt man den Beteiligten, stimmt das Drehbuch perfekt. Die Zurückhaltung auf der Tour sei geplant gewesen, der Fakt, nur in Laax (ohne japanische und amerikanische Beteiligung) gewonnen zu haben, sei angesichts des erhöhten Trainingspensums zu relativieren. «Er musste egoistisch sein und Prioritäten setzen, weil am Ende nur das ganze Bild zählt», erklärt Bruni und betont, dass drei «sehr gute» Trainingstage in Aspen womöglich mehr wert gewesen seien als ein Top-Ergebnis bei den X-Games.
«Wir begingen keine Dummheiten. Iouri betreibt generell ein anderes Risikomanagement als Shaun. Ihn würde es verunsichern, wenn er zurückstecken würde.» Im Lager Podladtchikovs haben sie die unüblichen Flugturbulenzen des amerikanischen Superstars White selbstredend registriert, der nach mehreren schweren Crashes angeschlagen ist und auf den Slopestyle verzichtete. «Sein Pensum war zu gross. Das könnte das entscheidende Prozent zu unseren Gunsten sein.»
White liess sich derweil in einem Astronautenanzug ablichten und forderte seine 1,3 Millionen Follower zum virtuellen Support auf: «Wünscht mir Glück!» Der bekannteste Wintersportler der Welt will vorerst nicht auf dem Mond landen, aber zum dritten Mal in Serie auf dem Olymp. Podladtchikov, nach dem Namen des russischen Kosmonauten Juri Gagarin benannt, hingegen wird alles daran setzen, das Raumschiff «White Enterprise» aus der Umlaufbahn verdrängen.
Bisher hat der Schweizer alle Duelle gegen White verloren. Nun erhält er wohl die ultimative Chance, ihn im wichtigsten Wettbewerb zu besiegen. Der Countdown ist abgelaufen, die Vorbereitung zu Ende, das Versteckspiel ist fertig, das Taktieren passé, die Wahrheit kommt zum Vorschein. Weltmeister vs. Doppel-Olympiasieger. Oder zweimal YOLO bitte. «You only live once» – so heisst die magische Trickerrungenschaft der Nummer2. Ein doppelter Salto, vierfach gedreht. Nur James Bond lebte zweimal. (si)