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Kann Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sein «Kamikaze-Kabinett» noch einmal retten?

Weil die Regierung vom ukrainischen Parlament gewählt wird, konnte sich Arsenij Jazenjuk nicht einmal seine eigene Mannschaft aussuchen. 
Weil die Regierung vom ukrainischen Parlament gewählt wird, konnte sich Arsenij Jazenjuk nicht einmal seine eigene Mannschaft aussuchen. Bild: EPA
Ukraine-Krise

Kann Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sein «Kamikaze-Kabinett» noch einmal retten?

Der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ist zurückgetreten, nachdem das Parlament dringend notwendige Wirtschaftsgesetze abgelehnt hatte. «Was hier geschehen ist, hat dramatische Folgen für das Land», sagt er. Die Ukraine steuert auf Neuwahlen zu. 
26.07.2014, 22:2028.04.2015, 07:46
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Seit der Auflösung der Sowjetunion sucht die 1991 unabhängig gewordene Ukraine ihren Platz in der Weltgeschichte, zwischen der Europäischen Union einerseits und Russland andererseits. Dabei wird die Ukraine vom Glück nicht gerade verfolgt: Das Amt des Regierungschefs ist ein «Durchlauferhitzer», ganze 22 Ministerpräsidenten hat die Ukraine seit 1991 verschlissen. Von den korrupten Präsidenten gar nicht zu reden.

Die ersten beiden ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma waren alte Sowjet-Kaderleute, so offen und beweglich wie die Kreml-Mauern in Moskau. Der letzte Präsident Wiktor Janukowytsch war sogar ein verurteilter Schläger und Dieb. Für sie alle war das Land ein «Selbstbedienungsladen», in dem sie sich nach Lust und Laune bereichern konnten. Alleine Janukowytsch hat die Ukraine um 100 Milliarden Dollar betrogen. Das entspricht mehr als der Hälfte der ukrainischen Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr.

Der letzte Präsident Wiktor Janukowytsch war sogar ein verurteilter Schläger und Dieb.
Der letzte Präsident Wiktor Janukowytsch war sogar ein verurteilter Schläger und Dieb.Bild: keystone

Juschtschenko – Ministerpräsident ohne Perspektiven

In den fünf Jahren nach der «Orangen Revolution» 2004 regierte Präsident Wiktor Juschtschenko, der halbwegs erfolgreich gegen die Korruption kämpfte und die Ukraine an die Europäische Union annähern wollte. So strich Juschtschenko die Visumspflicht für Staatsbürger aus der EU und der Schweiz. Im Westen wurde er als Freiheitsheld gefeiert, 2009 und 2011 auch an legendären Auftritten in der ETH Zürich. Doch die EU liess die Ukraine im Stich, Juschtschenko bekam nicht einmal eine vage Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft.

8. September, 2005: Wiktor Juschtschenko (rechts) mit Julija Timoschenko und Petro Poroschenko.
8. September, 2005: Wiktor Juschtschenko (rechts) mit Julija Timoschenko und Petro Poroschenko.Bild: AP POOL PRESIDENTIAL PRESS SERVICE

Bei der Präsidentschaftswahl 2010 erhielt Juschtschenko deshalb nur 5,5 Prozent der Stimmen, das schlechteste Wahlergebnis für einen amtierenden Präsidenten weit und breit. Sein Vorgänger Wiktor Janukowytsch wurde auch sein Nachfolger. Bis zum so genannten Euromaidan, der Ende November 2013 begann.

Arsenij Jazenjuk – der Anti-Held

Das Verrückte ist: Ende November 2013 rechnete in der Ukraine niemand mit einem Volksaufstand. Nach dem kläglichen Scheitern der «Orangen Revolution» waren die Ukrainer demoralisiert und lethargisch. Die jungen Ukrainer gingen zu Tausenden in den Westen, die Alten sassen in der Datscha und pflanzten Gurken.

30. September, 2007: Nach dem kläglichen Scheitern der «Orangen Revolution» waren die Ukrainer demoralisiert und lethargisch.Bild: EPA
«Keine Chance, die Ukrainer sind viel zu müde.»
Arsenij Jazenjuk 
Arsenij Jazenjuk und Frank-Walter Steinmeier.
Arsenij Jazenjuk und Frank-Walter Steinmeier.Bild: Frank Augstein/AP/KEYSTONE

Nachdem Janukowytsch der EU in letzter Minute den Rücken gekehrt und stattdessen ein Milliardenangebot von Russland angenommen hatte, traf der Kiewer Journalist Mustafa Najem spätabends einen völlig erschöpften Arsenij Jazenjuk. Dieser hatte den ukrainischen Präsidenten nicht vom Russland-Deal abhalten können. Als der Journalist dem Oppositionspolitiker sagte, dass die Ukrainer jetzt auf die Strasse gehen müssten, winkte Jazenjuk ab: Keine Chance, die Ukrainer seien viel zu hoffnungslos, viel zu müde.

Jazenjuk war noch nie ein grosser Held. Der heute 40-jährige Sohn einer Professorenfamilie ist schmächtig und blass. Undenkbar, dass er sich wie Wladimir Putin in Macho-Pose mit nacktem Oberkörper und einem Gewehr in der Hand fotografieren lassen würde. Mit seiner Brille sieht Jazenjuk aus «wie der Streber, mit dem die richtigen Kerle in der Schule nur reden, um bei Prüfungen von ihm spicken zu können», beschreibt es der Journalist.

In der gleichen Nacht rief der Journalist deshalb selbst in seinem Facebook-Profil zum Protest auf und der Euromaidan begann. Jazenjuk blieb weiter zurückhaltend und versuchte im Hintergrund, eine Katastrophe zu vermeiden. Der Volksaufstand sollte nicht so enden, wie Alexander Puschkin einmal den «Russischen Bauernkrieg» in «Die Hauptmannstochter und Pugatschow» beschrieben hatte: «blutig, vergeblich und ebenso sinnlos wie mitleidslos».

27. Mai, 2014: Euromaidan ist die Bezeichnung für die Proteste in der Ukraine ab dem 21. November 2013, ausgelöst durch die überraschende Ankündigung der ukrainischen Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Bild: EPA/EPA

Das Volk liess sich aber am 21. Februar 2014 nicht mehr aufhalten und Präsident Janukowytsch gab den Schiessbefehl, bevor er mit dem Helikopter aus Kiew nach Russland flüchtete. Der Volksaufstand endete so, wie Puschkin geschrieben und Jazenjuk befürchtet hatte: blutig und mitleidslos. Wenigstens wurde das Blut der 77 Opfer der Scharfschützen von Janukowytsch nicht vergeblich vergossen.

Jazenjuk und sein «politisches Kamikaze-Kabinett»

Ende Februar 2014 wählte eine neue Regierungskoalition im ukrainischen Parlament eine Übergangsregierung, die gleichzeitig eine gnadenlose Sparpolitik durchsetzen und auf der Krim-Halbinsel sowie in der Ost-Ukraine einen teuren Krieg gegen Russland führen muss. Die «starken» Figuren des Euromaidan, der frühere Boxer Vitali Klitschko und die Revolutions-Ikone Julija Timoschenko, wollten sich an diesem Himmelfahrtskommando nicht beteiligen. Zum Ministerpräsidenten wählte das Parlament ausgerechnet den schmächtigen Arsenij Jazenjuk.

Revolutions-Ikone Julija Timoschenko.
Revolutions-Ikone Julija Timoschenko.Bild: POOL/REUTERS

Weil seine Regierungsmannschaft vom ukrainischen Parlament gewählt wird, konnte sich Arsenij Jazenjuk nicht einmal seine Regierungsmannschaft aussuchen. Denn im Parlament sitzen seit 2012 die gleichen mehr oder weniger korrupten Abgeordneten, die ihre Partei schneller wechseln, als der Grossvater in der Datscha sein Unterhemd.

Boxer und Politiker Vitali Klitschko
Boxer und Politiker Vitali KlitschkoBild: SERGEY DOLZHENKO/EPA/KEYSTONE

So muss der Ministerpräsident neben acht Regierungsmitgliedern seiner eigenen «Vaterland»-Partei und acht Parteilosen der Euromaidan-Protestbewegung mit vier Regierungsmitgliedern der rechtspopulistischen und radikal nationalistischen «Swoboda»- Partei zurechtkommen. Deren Partei-Logo war bis vor wenigen Monaten noch der «Wolfsangel», ein Nazi-Symbol von Rechtsextremisten und Neonazis in aller Welt.

«Politisches Kamikaze-Kabinett»

Mit einer solchen Regierung ist kein Staat zu machen. Dabei hätte das Reformpaket von Jazenjuk 2,3 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Regionen des Landes und die ukrainische Armee bringen sollen. «Wir haben nicht einmal genug Geld, um alle Panzer einmal aufzutanken», klagte Jazenjuk.

Für all diese Aufgaben wollte er unter anderem die Steuern erhöhen sowie Rentnern und Geringverdienern den Inflationsausgleich streichen. Unabhängig davon müssen die Ukrainer fast doppelt soviel für das Gas bezahlen, mit dem gekocht und geheizt wird, weil Russland die Gaspreise massiv erhöht hat.

«Wir haben nicht einmal genug Geld, um alle Panzer einmal aufzutanken.»
Arsenij Jazenjuk

Kein Wunder, nannte Arsenij Jazenjuk seine Regierung beim Amtsantritt ein «politisches Kamikaze-Kabinett». Mit den Rechtsextremisten von «Swoboda», gegen die frühere Regierungs-«Partei der Regionen» und die Klitschko-Partei «Udar» («Schlag» oder «Treffer»), sollte er gewaltige und unpopuläre Aufgaben lösen, um die Ukraine vor dem Zusammenbruch zu retten. Dabei wäre gerade die Klitschko-Partei ein wichtiger Regierungspartner – wegen seiner Verbindung zum neuen Präsidenten und dessen Medienimperium.

Poroschenko – der «Schokoladenkönig»

Der neue Präsident Petro Poroschenko ist in der Ukraine als «Schokoladenkönig» bekannt. Ihm gehören neben dem Nahrungsmittelkonzern «Roshen» aber auch mehrere TV- und Radiosender, darunter der beliebte Fernsehsender Kanal 5. Als Poroschenko im Mai für das Präsidentenamt kandidierte, kam Vitali Klitschko plötzlich wieder aus seiner Deckung hervor und kämpfte für den «Schokoladenkönig». Umgekehrt unterstützen Poroschenko und sein Medienimperium den früheren Boxer Vitali Klitschko in dessen Wahlkampf für das Amt des Bürgermeisters von Kiew. Beide waren erfolgreich.

Der« Schokoladenkönig»: Petro Poroschenko.
Der« Schokoladenkönig»: Petro Poroschenko.Bild: THOMAS PETER/REUTERS

Schon bei seinem Wahlsieg im Mai hatte Petro Poroschenko auf vorgezogene Neuwahlen gedrängt, damit er als Präsident eine breitere Machtbasis im Parlament erhält. Auf den ursprünglichen Termin für Neuwahlen im Oktober wollte er aber nicht warten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Poroschenko seine Finger im Spiel hatte, damit mit Klitschkos «Udar» und der rechtsnationalen «Swoboda» zwei der drei Parteien die Regierungskoalition im Parlament verlassen.

Präsident Petro Poroschenko spielt mit dem Feuer

Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk bezeichnete dieses Ränkespiel empört als «moralisches und ethisches Verbrechen». Der Zerfall der Koalition blockiere für die Ukraine überlebenswichtige Gesetze, warnte Jazenjuk.

Wenn die Regierungskoalition nicht mehr funktioniere, müsse er als Ministerpräsident nach neuen Bündnispartnern suchen – oder zurücktreten, erklärte Jazenjuk. Und da er niemals mit den Kommunisten oder der «Partei der Regionen» des früheren Präsidenten Janukowytsch zusammen regieren werde, trete er sofort zurück.

Das ukrainische Parlament hat nach der Verfassung nun 30 Tage Zeit, eine neue Regierungskoalition zu bilden. Bild: AP Prime Minister Press Service

Das ukrainische Parlament hat nach der Verfassung nun 30 Tage Zeit, eine neue Regierungskoalition zu bilden. Gelingt dies nicht, kann Präsident Poroschenko das Parlament auflösen und sofort Neuwahlen ausrufen. Wie eine am Donnerstag veröffentlichte Meinungsumfrage zeigt, würde das neue Parlament ganz anders aussehen, als das jetzige: Die «Partei der Regionen» und die Kommunistische Partei, die für Präsident Janukowytsch die Parlamentsmehrheit gebildet hatten, verschwinden im Orkus der Geschichte.

Die rechtsnationale «Swoboda» dürfte weniger Stimmenprozente erhalten, als rechtspopulistische Parteien in westeuropäischen Ländern. Zur Erinnerung: Der rechtsextreme «Front National» hat bei den letzten Wahlen in Frankreich 25 Prozent der Wählerstimmen erhalten.

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Im Parlament: Abgeordnete der rechtsnationalen Swoboda prügeln sich mit den Kommunisten.
Im Parlament: Abgeordnete der rechtsnationalen Swoboda prügeln sich mit den Kommunisten.Bild: AFP

Rücktritt vom Rücktritt?

Inzwischen scheint Präsident Poroschenko selbst nicht mehr so überzeugt von seinem Plan. Denn die Ukraine steht wirtschaftlich vor dem Kollaps. Die Inflationsrate wird bis Ende 2014 auf brutale 19 Prozent steigen, die Wirtschaft wird um sechs Prozent schrumpfen. Viele Unternehmen entlassen Mitarbeiter oder schliessen gleich ganz die Tore. Das Finanzministerium rechnet mit einem Minus von zwei Milliarden Euro im Staatshaushalt, dazu kommen die Milliardenschulden für russisches Gas.

Im schlimmsten Fall – wenn jetzt die Ukraine zusammenbricht – trägt Präsident Poroschenko die Verantwortung dafür. Das Auseinandergehen der Koalition sei doch «kein Grund für den Rücktritt der Regierung», beschwichtigt Poroschenko deshalb und fordert das Parlament sogar dazu auf, der Regierung von Jezenjuk das Vertrauen auszusprechen. Er werde Jazenjuks Demission ablehnen und auf den 31. Juli eine Sondersitzung des Parlamentes festsetzen.

Vielleicht einigt sich die Regierungskoalition der Wendehälse im Parlament am 31. Juli 2014 doch noch? Vielleicht gibt Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk den Rücktritt vom Rücktritt bekannt? Es wäre nicht der erste grossartige Plan in der Ukraine, der nicht funktioniert hat – und auch nicht der letzte.

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