Einmal mehr heisst es: Dekadenter Westen gegen den bösen russischen Bären. Die Krise in der Ukraine hat den Kulturkrieg zwischen Ost und West neu entfacht. Wie ist es zur grossen kulturellen Kluft zwischen Russland und dem Westen gekommen? Das erklärt der Politologe Francis Fukuyama in seinem Buch «The Origins of Political Order».
Der russische Staat ist etwa um 1000 nach Christus in Kiew entstanden. Die Stadt war damals ein bedeutender Umschlagplatz im Handel zwischen dem byzantinischen Reich und Zentralasien. Sie war reich und stark bevölkert. Im Jahr 1230 wurde Kiew jedoch von den Mongolen erobert und total zerstört. Die Herrschaft der Mongolen dauerte rund 250 Jahre. Sie hat bis heute Spuren in Russland hinterlassen.
Fukuyama schildert den Einfluss der Mongolen wie folgt:
«In scharfem Gegensatz zu den christlichen Prinzen Europas sahen sich die mongolischen Herrscher als reine Ausbeuter der von ihnen eroberten Völker. Es waren Stammesherrscher, die keine politischen Institutionen oder Rechtstheorien anerkannten. Sie heuchelten nicht vor, dass Herrschaft zum Wohle des Volkes existierte. [...] Widerstand bestraften sie hart und hatten keine Skrupel, die gesamte Bevölkerung einer Stadt hinzurichten, um zu zeigen, wer das Sagen hatte. [...] Die Mongolen haben mehrere Generationen von russischen Führern in ihrer ausbeuterischen Taktik geschult.»
Der westliche Rechtsstaat hat seine Wurzeln im Konflikt zwischen Kirche und Staat. Könige und Kaiser konnten nicht absolutistisch regieren, sie mussten die Autorität des Papstes und den Kanon der Kirche akzeptieren.
Höhepunkt dieses Zwistes war der Gang nach Canossa von Heinrich IV im Jahr 1076/77. Der König warf sich vor Papst Gregor VII in den Staub, bat um Vergebung und anerkannte so das eigenständige, kirchliche Recht. Dieses Recht wurde später auch auf die Bürger ausgedehnt und bildet heute die Grundlage des modernen Rechtsstaates.
In Russland hat diese Trennung nicht stattgefunden. «Die russisch-orthodoxe Kirche hat niemals die gleiche Rolle gespielt wie die katholische, als es darum ging, einen Rechtskanon zu entwickeln, der nicht unter der Kontrolle der weltlichen Herrscher stand», stellt Fukuyama fest. Stattdessen bildeten weltliche und kirchliche Autoritäten bis zur kommunistischen Revolution eine Interessensgemeinschaft. «Die Interessen von Kirche und Staat überlappten sich», stellt Fukuyama fest. Heute feiert diese Interessengemeinschaft ein Comeback. Wenn Putin sich nicht mit nacktem Oberkörper fotografieren lässt, dann gerne in Begleitung eines Popen.
Iwan IV (1530 – 1584) war ein zunächst ein gewöhnlicher Zar, bis 1560 seine geliebte Frau Anastasia starb. In tiefer Trauer verliess er Moskau. 1565 kehrte Iwan zurück und entwickelte seine legendäre Schreckensherrschaft. Er verlangte absolute Autorität und bedingungslosen Gehorsam, witterte überall Verrat, liess von seiner Geheimpolizei Zehntausende foltern oder gar hinrichten und verwandelte das Land in ein riesiges Konzentrationslager. Iwan wurde so zu einem mittelalterlichen Vorreiter für Josef Stalin.
Peter der Grosse (1672 – 1725) unternahm den Versuch, Russland zu modernisieren. Er verlegte die Hauptstadt von Moskau ins neu gebaute St. Petersburg und organisierte den Staat, vor allem die Armee, nach westlichem Vorbild. Auch der Geschmack des russischen Adels richtete sich gegen Westen, Frankreich und Versailles wurden das grosse Vorbild.
Doch Peter der Grosse blieb auf halbem Weg stecken. Um seine Herrschaft zu sichern, verbündete er sich mit dem Adel gegen Bürgertum und die Bauern. «Der russische Absolutismus wurde auf einer Allianz gegründet, die zwischen dem Monarchen und der oberen und unteren Nobilität entstand», stellt Fukuyama fest. «Die beiden schlossen sich auf Kosten der Bauern zusammen.»
Die Folgen dieses Bündnisses waren verheerend. Die Leibeigenschaft wurde in Russland erst 1861 abgeschafft. Wer zur Oberschicht gehören wollte, musste bei der Sklaverei mitmachen. Das war nicht nur grausam, sondern wie in den amerikanischen Südstaaten auch wirtschaftlich katastrophal. «Daher ist die kapitalistische Entwicklung in Russland nicht von einem unabhängigen Bürgertum vorangetrieben worden, sondern von der Aristokratie», stellt Fukuyama fest. Entsprechend lausig ist das Resultat ausgefallen.
Kein Rechtsstaat, Sklaverei bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, brutale Herrscher, ein dekadenter Adel und brutale Kommunisten haben Russland geprägt. Der Historiker John LeDonne schildert das Resultat wie folgt: «Das erklärt, warum die russische Regierung, mehr als alle anderen, eine Regierung von Menschen und nicht von Institutionen ist.»
Wladimir Putin knüpft an diese Tradition an. In seinem Büro soll er ein Bild von Zar Nikolaus I 1796-1855) hängen haben, einem autoritären, konservativen Herrscher. Auch Putin hat mittlerweile ein fundamental autoritäres Regime errichtet. Er stützt sich auf ein undurchsichtiges Netzwerk von starken Männern, unterdrückt die Opposition und verhüllt das Ganze mit einem pseudo-demokratischen Mäntelchen. Die Wirtschaftsordnung ist eine Art willkürlicher Staatskapitalismus, von der eine Oligarchie profitiert. Zunehmend verzichtet Putin gar auf eine pseudo-demokratische Rechtfertigung. Er verbietet NGOs, lässt Oppositionelle verhaften, hetzt gegen Homosexuelle und heizt die Bevölkerung mit übelstem Chauvinismus auf.
Putin schreckt auch mit Versatzstücken der ehemaligen Sowjet-Propaganda nicht zurück. Er will jedoch keine Neuauflage der UdSSR. Andrei Zubow, Historiker am Moscow State Institute of International Relations, warnt in der «Financial Times»: «Es wird keine Wiedergeburt der Sowjetunion geben, sondern eine Wiedergeburt des Faschismus in seiner reinsten Form im Sinne von Mussolini. Es wird weder Rassismus, noch Holocaust geben. Aber ein Grundprinzip wird sich durchsetzen: der Staat ist alles.»