Es scheint ein Lebenslauf aus dem Bilderbuch zu sein: Daniel Anrig, Noch-Gemeindeschreiber von Zermatt, studierte ziviles und kanonisches Recht, war Hauptmann in der Schweizer Armee, belegte mehrere führende Positionen in der Glarner und Zürcher Kantonspolizei und war Kommandant der päpstlichen Schweizergarde.
Doch Anrigs Biografie ist nicht nur gespickt mit illustren Rangabzeichen, sondern auch mit seltsamen Verdachtsmomenten.
Eine Übersicht:
Der erste öffentliche Wirbel in Anrigs Laufbahn ereignete sich während seiner Zeit als Chef der Glarner Kriminalpolizei, als er in einen der grössten Polizeiskandale der Schweiz verstrickt war: Hausdurchsuchungen in Asylbewerberheimen endeten dramatisch und hatten ein gerichtliches Nachspiel.
Am 3. Juli 2003 um 5.30 Uhr stürmten zwanzig Beamte einer Spezialeinheit der Glarner Kantonspolizei mit zwei Drogenhunden das Durchgangszentrum Rain von Ennenda. Die Polizisten fesselten die Asylbewerbenden an Händen und Füssen, entkleideten sie teilweise, zogen ihnen einen Stoffsack über den Kopf und klebten ihnen Nummern auf die Oberkörper, um sie zu fotografieren. Die so Überfallenen wurden sechs Stunden im Aufenthaltsraum des Asylheims festgehalten – bis ein Vertreter des Roten Kreuzes intervenierte.
Identisch verfuhr die Polizei gleichzeitig im Heim Matt in Linthal. Der Verdacht in beiden Fällen: Drogendelikte. Anrig trug die Verantwortung für beide Einsätze.
Die Glarner Kantonspolizei bezeichnete die Einsätze zuerst als verhältnismässig. Nennenswerte Ergebnisse brachten die Einsätze keine.
Das Schweizerische Rote Kreuz, Amnesty International und andere Institutionen riefen nach diesen Geschehnissen zu einer unabhängigen Untersuchung der Einsätze auf. Die Kantonspolizei Glarus und vier betroffene Asylsuchende reichten Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs ein, wie Humanrights schreibt.
Der Appenzeller Staatsanwalt Christian Bötschi wurde in der Folge mit der Untersuchung beauftragt. In seinem Bericht hielt er fest:
Der ausserordentliche Verhörrichter gab zu Protokoll, es habe keine vorsätzliche Absicht bestanden, den Asylbewerbern einen Nachteil zuzufügen. Darum war der Preis für Anrig am Schluss lediglich, dass er die Verfahrenskosten von 400 Franken sowie die Anwaltskosten der Anzeigeerstatter übernehmen musste. Der Vorfall ist ad acta gelegt.
Geschadet hat ihm der Tolggen im Reinheft nicht. Er wurde 2005 zum Glarner Polizeikommandanten befördert. Dem Tagesanzeiger sagte er im Hinblick auf seine Stelle im Vatikan, die er 2008 antrat:
Anrig galt lange Zeit als Vorbilds-Katholik – das attestierte ihm auch der Papst. Doch gerade auf dem katholischsten Flecken Erde überhaupt geriet Anrig 2015 ein zweites Mal in die Schlagzeilen:
Anrig wurde als Kommandant der Schweizergarde entlassen. Die Umstände waren und blieben mysteriös.
Kommuniziert wurde von Anrig, dass Papst Franziskus zu dem Schluss gekommen sei, dass er «eine Neubesetzung an der Spitze der Garde» wolle, wie einem Interview mit dem Tagesanzeiger zu entnehmen ist. Warum der Papst diese Neubesetzung wollte, bleibt für die Öffentlichkeit bis heute Spekulation.
Und scheinbar nicht nur für die Öffentlichkeit: Im Interview sagte der damals scheidende Kommandant auf die Frage, warum er denn entlassen worden wäre:
Italienische Zeitungen glaubten damals, den Grund für die Entlassung zu kennen: Der Führungsstil des Ostschweizers sei zu streng und autoritär.
Anrig stand der Garde seit 2008 vor. Während seiner Amtszeit wurde ihm vorgeworfen, beim Umbau der Wohnung für den Kommandanten und dessen Familie nicht bescheiden genug gewesen zu sein. Der Blick bezeichnet ihn 2014 als «Protz-Gardist». Zudem attestierten Unterstellte dem Kommandanten anonym, «jede Bodenhaftung» verloren zu haben sowie «arrogant und überheblich» zu sein.
Dabei begann die Geschichte von Anrig in der Schweizergarde bescheiden: Nach seiner Matura zog es den Ostschweizer in den Dienst in den Vatikan, wo er von 1992 bis 1994 als Hellebardier diente, bevor er sein Studium in zivilem und kanonischem Recht an der Universität Freiburg aufnahm. Die Jahre als Hellebardier hätten ihn geprägt, sagte der Ostschweizer der «Basler Zeitung».
Der Papst äusserte sich übrigens ebenfalls zum möglicherweise unfreiwilligen Wechsel an der Spitze der Garde. Es sei ihm nur um eine gesunde Erneuerung gegangen, sagte Franziskus der argentinischen Zeitung La Nácion. Anrig sei auch nicht zu strikt oder autoritär gewesen. Und er ergänzte: Der scheidende Kommandant sei «ein hervorragender Katholik, ein Familienmensch». Den Verdachtsmomenten gegen Anrig ein Ende gesetzt hat dieses Interview nicht.
Nach seiner Entlassung aus dem Vatikan gab Anrig seinen Antritt als Chef der Flughafen-Stabsabteilung der Kantonspolizei Zürich. Aufgrund des Skandals in Glarus waren nicht alle begeistert von dieser Ernennung. Davide Loss, SP-Kantonsrat, sagte:
Geblieben ist Anrig im Kanton Zürich bis 2020, dann wechselte der mittlerweile 50-Jährige als Gemeindeschreiber nach Zermatt.
Nachdem Anrig bereits mehrfach in der Öffentlichkeit gestanden hatte, meldete unter anderem das katholische Medienzentrum kath.ch letzte Woche, dass er «spurlos verschwunden» sei – und die Polizei ihn vergeblich suchte.
Sein Anwalt, Max Imfeld-Frischknecht, widersprach dieser Darstellung am Montagabend auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA und meinte, dass dies «bewusste Fehlinformation der Medien» gewesen sei.
Anrig sitzt aktuell im Kanton Zürich in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: Der ehemalige Polizeikommandant und höchste Personenschützer des Papstes habe jemanden bedroht. Sein Anwalt liess vermelden, es gehe um eine «rein familiäre Auseinandersetzung» ohne «Tätlichkeiten» oder «Verletzungen».
Das Arbeitsverhältnis in Zermatt wird Ende Dezember enden. Es wurde im Oktober überraschend aufgelöst.
(yam)