Baum68
Es ist genug Geld vorhanden, es ist nur nicht richtig verteilt.
Ein Zuschlag von 70 Franken bei der AHV oder höhere Einzahlungen in die zweite Säule – auf diesen vereinfachten Nenner lässt sich der Streit um die Rentenreform bringen, die unter der Bezeichnung Altersvorsorge 2020 in den nächsten drei Wochen im Bundeshaus beraten wird. Bis zum Ende der Frühjahrssession muss die Vorlage bereinigt werden. Nach der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative steht somit eine weitere Hauruck-Übung an.
Bislang ist die Monsterreform – eines der wichtigsten Geschäfte der Legislatur – zweimal vom Ständerat und einmal vom Nationalrat behandelt worden. Zwischen den beiden Kammern gibt es gewichtige Differenzen, insbesondere die Frage, wie die Senkung des Umwandlungssatzes bei der beruflichen Vorsorge (BVG) von 6,8 auf 6 Prozent kompensiert werden soll. Denn in einem Punkt sind sich die Räte einig: Tiefere Renten sind so weit wie möglich zu vermeiden.
Gestärkt wird diese Sichtweise durch eine Umfrage des Vereins Vimentis. Sie zeigt, dass das Vertrauen in die AHV schwindet. 46 Prozent der Befragten erachten ihre Rente als nicht gesichert. Gleichzeitig aber lehnen satte 88 Prozent Kürzungen bei der AHV ab, und 64 Prozent wollen kein höheres Rentenalter. Die Reform muss folglich sozialverträglich sein, sonst ist ein Scheitern an der Urne wie 2004 und 2010 programmiert.
Die Unternehmenssteuerreform III ist ein weiteres Warnsignal. Einen Fehlschlag aber kann sich Bundesbern kaum leisten. Der Handlungsbedarf ist weitgehend unbestritten, denn wegen der steigenden Lebenserwartung dauert der Ruhestand immer länger. Ausserdem gehen die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge in den nächsten Jahren sukzessive in Pension. Beides führt zu einer Zunahme der Rentnerinnen und Rentner, was AHV und Pensionskassen strapaziert.
Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten zur grossen Rentenreform:
Der Hauptgrund ist nicht die eigentliche Reform. Ende 2017 läuft der Mehrwertsteuer-Zuschlag von 0,4 Prozent zur Finanzierung der Invalidenversicherung (IV) aus. Er soll beibehalten werden, mit einem neuen Verwendungszweck: 0,1 Prozent werden in die Bahninfrastruktur fliessen, die verbleibenden 0,3 Prozent sollen der AHV zukommen. Um der Wirtschaft einen aufwändigen und teuren Umstellungs-Murks zu ersparen, muss der Übergang nahtlos am 1. Januar 2018 erfolgen.
Dies kann nur gelingen, wenn die – obligatorische – Volksabstimmung am 24. September stattfindet. Eine mögliche Referendumsabstimmung über die eigentliche Rentenreform soll nach dem Willen von Sozialminister Alain Berset am gleichen Tag durchgeführt werden, damit sie ebenfalls auf Anfang 2018 in Kraft treten kann. Der enge Zeitplan erklärt, warum die Altersvorsorge 2020 in der Schlussabstimmung am 17. März verabschiedet werden sollte.
Der umstrittenste Punkt ist die erwähnte Kompensation des Umwandlungssatzes in der 2. Säule. Andere kontroverse Elemente sind Änderungen bei der Witwenrente und ein weiterer Zuschlag bei der Mehrwertsteuer für die AHV (der Nationalrat will 0,6 Prozent, der Ständerat 1 Prozent). Der Zürcher Grünliberale Thomas Weibel, der die Vorlage als Kommissionssprecher im Nationalrat vertritt, geht davon aus, dass bei diesen Elementen ein Kompromiss möglich ist.
Eine heikles Thema ist das Rentenalter, wie die Vimentis-Umfrage zeigt. Mit einer Erhöhung auf 65 Jahre bei den Frauen hat sich im Grundsatz auch die Linke abgefunden. Heftig umstritten ist hingegen die von FDP, SVP und Wirtschaftsverbänden geforderte Schuldenbremse. Wenn die AHV in finanzielle Schieflage gerät, soll das Rentenalter schrittweise auf 67 Jahre erhöht werden. Dieses heisse Eisen dürfte aus der jetzigen Vorlage ausgegliedert und später behandelt werden.
Heute beträgt er 6,8 Prozent. Das bedeutet, dass man bei einem Pensionskassen-Guthaben von 100'000 Franken eine jährliche Rente von 6800 Franken erhält. Diese Ausschüttung gilt wegen der gestiegenen Lebenserwartung als nicht nachhaltig. Ein grosser Teil der Pensionskassen hat die Renten bereits «mit einem ganz legalen Trick» gesenkt, wie «10vor10» im letzten Herbst berichtete. Möglich macht dies der überobligatorische Teil, für den die gesetzliche Vorgabe nicht gilt.
Der Rüstungs- und Technologiekonzern Ruag hat den Umwandlungssatz auf 4,57 Prozent gesenkt, wie «10vor10» ermittelt hat. Bei den meisten Pensionskassen liegt er im Bereich der angestrebten sechs Prozent. Eine Kompensation gilt dennoch als zwingend, aufgrund der leidvollen Erfahrung mit der 2010 versenkten BVG-Reform. Damals sollte der Satz von 6,8 auf 6,4 Prozent reduziert werden, ohne Ausgleich, was von links mit dem Slogan «Rentenklau» gestoppt wurde.
Die Mehrheit des Nationalrats will, dass die Versicherten als Ausgleich für den tieferen Umwandlungssatz mehr Geld in die Pensionskasse einzahlen. Dazu soll der Koordinationsabzug abgeschafft werden, eine Art Freibetrag beim Lohn (derzeit 24'675 Franken), auf den keine Beiträge an die 2. Säule geleistet werden müssen. Hinter dem Modell stehen FDP, SVP, GLP sowie Economiesuisse und Arbeitgeberverband. Es gilt jedoch als teuer. Insbesondere jüngere Arbeitnehmer müssten deutliche höhere Lohnabzüge hinnehmen.
Inzwischen hat die nationalrätliche Kommission für Soziales und Gesundheit «nachgebessert». Die Befürworter verweisen auf Berechnungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), wonach ihr Modell weniger kosten und besser wirken soll als die Variante des Ständerats. Die maximale Renteneinbusse liege bei 557 Franken im Jahr, gegenüber 827 Franken beim Ständerats-Modell. Im Sinne eines Kompromisses sollen Personen, die jung ins Erwerbsleben eingestiegen sind und wenig verdient haben, die AHV früher beziehen können.
Die kleine Kammer hat ebenfalls Anpassungen bei der 2. Säule beschlossen. Unter anderem sollen Arbeitnehmer ab 21 und nicht wie heute ab 25 Jahren in die Pensionskasse einzahlen. Der umstrittenste Punkt aber ist ein Zuschlag von 70 Franken pro Monat bei der AHV für Neurentner, als Ausgleich für die tiefere Pensionskassen-Rente. Die Befürworter von CVP, SP, BDP und Grünen verweisen darauf, dass dieses Modell verständlich zu kommunizieren ist, im Gegensatz zur komplizierten Variante des Nationalrats. Das Scheitern der USR III lässt grüssen.
«Wenn ich mit Rentnern spreche, gehen sie davon aus, dass sie die 70 Franken ebenfalls bekommen werden», sagt GLP-Nationalrat Thomas Weibel: «Wenn sie das Gegenteil erfahren, kippt die Zustimmung.» Heutige Rentner sind von der Senkung des Umwandlungssatzes nicht betroffen und brauchen deshalb keine Kompensation, doch Weibel verweist auf die Erfahrungen mit der USR III: «Die Stimmbürger fragen sich, was eine Vorlage kostet und was sie ihnen bringt.» Er bezeichnet die 70 Franken als «Sprengstoff», denn «sie führen zu einer Zwei-Klassen-AHV».
Ein weiterer Nachteil betrifft die Übergangsgeneration. Wer beim Inkrafttreten der Reform zwischen 50 und 65 Jahre alt ist, wird vom tieferen Umwandlungssatz ebenfalls ausgenommen, soll aber die 70 AHV-Franken dennoch erhalten. Diese Generation würde somit doppelt profitieren. Hinzu kommt die zusätzliche Belastung für die AHV-Finanzen. Die Wirtschaftsverbände warnen, dass bis 2035 ein Loch von fünf Milliarden Franken entstehen werde.
Hinter den Kulissen finden «etliche Gespräche» statt, sagt Kommissionssprecher Thomas Weibel. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass National- und Ständerat einen gemeinsamen Nenner finden werden. Weibel geht davon aus, dass am Ende die Einigungskonferenz der beiden Räte entscheiden wird. Das ist brisant, denn dort hat Mitte-links die Mehrheit und könnte dem Modell des Ständerats zum Durchbruch verhelfen. Damit steigt die Gefahr, dass die Reform in der Schlussabstimmung im Nationalrat scheitert.
Die Grünliberalen, die mit ihren sieben Sitzen das Zünglein an der Waage bilden, wollen es nicht zu einem solchen Debakel kommen lassen. Sie würden die 70 Franken als «sehr bittere Pille» schlucken, wie Thomas Weibel dem «Blick» erklärte. Gegenüber watson nennt er als Minimalforderung: «Die 70 Franken soll es nur für tiefe Renten geben.» Einen entsprechenden Antrag hat die Zürcher CVP-Nationalrätin Barbara Schmid-Federer eingereicht.
FDP und Wirtschaftsverbände haben gedroht, sie würden ein Scheitern der Reform in Kauf nehmen. Seit dem USR-III-Flop aber ist ihre Kommunikation defensiv geworden. Noch Mitte Januar bezeichneten die Freisinnigen die 70 Franken für Neurentner als finanzpolitischen Sündenfall und als «Verrat an der nächsten Generation». Heute sprechen sie von «süssem Gift».
Die FDP ist zunehmend isoliert, denn auf die SVP kann sie sich nicht verlassen. Vertreter ihres bäuerlichen Flügels haben im «Blick» angetönt, im Zweifelsfall für die 70 Franken zu stimmen. Eine Prognose sei deshalb gewagt: Es wird eine Reform geben, und die 70 Franken werden irgendwie enthalten sein. Denn ein Aspekt ist ebenfalls zu beachten: Eine Rentenreform, die von der geschlossenen Linken bekämpft wird, hat in einer Volksabstimmung keine Chance.