Das ist die Geschichte eines Kriegers, eines Kriegs und eines Fehlentscheids. Ihre Hauptfiguren sind zwei Tessiner. Sie spielt im kosovarischen Mitrovica, in Bellinzona, im russischen Rostow am Don und im Sitzungszimmer des Bundesrats im 1. Obergeschoss, Bundeshaus-West, Bern.
Die Geschichte beginnt am 4. Dezember 1990. Die Familie Behrami, Vater Ragip, Mutter Halime, der damals 5-jährige Valon und seine 7-jährige Schwester Valentina überqueren in einem Bus aus Mitrovica im Kosovo kommend die italienisch-schweizerische Grenze. Vater Ragip war in den Jahren zuvor im zunehmend repressiven Klima gegen die Albaner in der damaligen jugoslawischen Provinz willkürlich von der Polizei aufgegriffen und verprügelt worden. Die erste Nacht in der neuen Heimat verbringt die Familie einem Hotel in Bellinzona:
Zu dieser Zeit hat der 29-jährige Ignazio Cassis sein Arztdiplom von der Universität Zürich bereits seit zwei Jahren in der Tasche. Er ist als Assistenzarzt in der Chirurgie und der inneren Medizin tätig.
Im Februar 1998 bricht der Kosovokrieg aus. Nach Schätzungen werden in dem 16 Monate andauernden Konflikt bis zu 13’000 Menschen getötet oder gelten seither als vermisst. Auch ein Cousin und ein Onkel von Valon Behrami wurden erschossen. Über 1 Million Menschen war zeitweise auf der Flucht. 53’000 von ihnen kamen in die Schweiz.
Der 36-jährige Ignazio Cassis ist bei Kriegsausbruch seit zwei Jahren Kantonsarzt im Tessin. Während sich die Familie Behrami nach Jahren der Unsicherheit über eine definitive Aufnahmebewilligung in der Schweiz freuen kann, erhält Ignazio Cassis den Facharzttitel FMH für die Innere und die präventive Medizin.
Unsere Geschichte springt zwanzig Jahre nach vorne, in den Sommer 2018. Der 33-jährige Valon Behrami ist der unbestrittene Leitwolf der Schweizer Nationalmannschaft an der Fussball-WM in Russland. Der 57-jährige Ignazio Cassis sitzt seit rund sieben Monaten für die FDP im Bundesrat.
15. Juni 2018: Der Bundesrat versammelt sich in seinem Sitzungszimmer im 1. Obergeschoss des Bundeshauses in Bern. Das Täfer an den Wänden stammt von 1889, die Stuckdecke und der Leuchter sind original von 1857. Der wichtigste Beschluss der Sitzung: Der Bundesrat lockert die Bestimmungen der Kriegsmaterialverordnung. Unter gewissen Umständen sollen Schweizer Waffen zukünftig auch in Länder exportiert werden können, in denen Bürgerkrieg herrscht.
Eine eigene Rüstungsindustrie zu haben sei für «die Glaubwürdigkeit der Sicherheitspolitik» der Schweiz weiterhin zentral. Und weil diese Industrie auf Kriegsmaterialexporte angewiesen sei und unter der «im Vergleich zu anderen europäischen Ländern restriktiven Exportbewilligungspraxis» leide, soll sie neu auch in Bürgerkriegsländer exportieren dürfen. Die schwammig formulierte Einschränkung: Es dürfe «kein Grund zur Annahme bestehen, dass das auszuführende Kriegsmaterial im internen bewaffneten Konflikt eingesetzt wird.»
Die Mehrheit für diesen Beschluss kommt dank Ignazio Cassis zustande. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Didier Burkhalter stimmt er gemeinsam mit den SVP-Bundesräten Maurer und Parmelin für das Anliegen seines FDP-Parteifreunds Johann Schneider-Ammann.
Zwei Tage später und 2428 Kilometer im Osten: Valon Behrami führt die Nationalmannschaft mit einer Weltklasseleistung zum 1:1-Unentschieden gegen Brasilien im ersten WM-Spiel der Schweiz am 17. Juni 2018 in Rostow am Don. Er gewinnt 100 Prozent seiner Kopfballduelle und 75 Prozent seiner Zweikämpfe.
Die Presse feiert Behrami als «Krieger», der Superstar Neymar erfolgreich in Schach gehalten hat.
Bei einer Fussball-WM geht es um Einiges: Um Ruhm, um sehr viel Geld, um Jubel und Trauer, Erfolg und Misserfolg. Aber es geht nicht um Leben und Tod. Neymar als häufigstes Opfer von «Krieger» Behrami musste ein paar Schläge einstecken. Angst um sein Leben musste er keine haben.
Journalisten des Tages-Anzeigers zeigten Behrami Ende 2016 anlässlich eines Interviews ein Bild aus dem März dieses Jahres. Darauf zu sehen waren verzweifelte Flüchtlinge, welche einen Fluss an der griechisch-mazedonischen Grenze in der Nähe des Flüchtlingscamps Idomeni überqueren. Behramis Reaktion:
Der Tessiner «Krieger» Behrami weiss aus der eigenen Biografie, was Flucht begleitet. Seine Familie im Kosovo musste erfahren, was Waffen anrichten können. Sie musste Angst haben um ihr Leben.
Als Aussenminister steht der Tessiner Arzt Ignazio Cassis dem EDA vor. Das Departement galt lange als Hort von schweizerischen Werten wie der Neutralität und der humanitären Tradition. Der Präsident des Internationalen Komittee vom Roten Kreuz (IKRK) entstammt traditionellerweise aus den Reihen der Diplomaten des EDA. Das IKRK setzt sich auf der ganzen Welt für diejenigen ein, die unter bewaffneten Konflikten leiden. Es versucht seit über 150 Jahren, Kriegsparteien zur Einhaltung der völkerrechtlichen Regeln zu verpflichten. Meistens gelingt das jedoch nicht. Oder nur ungenügend.
Für ein Foul an Neymar erhielt «Krieger» Behrami in der 68. Minute die gelbe Karte. Die Regelübertretung wurde sanktioniert. Werden Schweizer Waffen und Munition nach dem Export in ein Bürgerkriegsland – entgegen der naiven Erwartungen des Bundesrates – in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt, steht kein Schiedsrichter mit der gelben Karte daneben. Es windet sich kein Neymar theatralisch am Boden. Es werden Menschen damit getötet.