Die Mühlen in der Schweizer Politik mahlen langsam. Zumindest in den meisten Fällen. Das ärgert viele. Andere hingegen finden es wohltuend, dass die Gesetzgebung in einem gemächlichen Tempo voranschreitet. Am Ende resultiert nicht immer, aber häufig ein vernünftiger Kompromiss. Die Langsamkeit dieser Prozesse ist nicht zuletzt eine Konsequenz unseres Milizsystems.
Wer derzeit die Vorgänge im Bundeshaus verfolgt, hat jedoch das Gefühl, im falschen Film zu sitzen. Geschäfte von enormer Tragweite werden in einem hektischen Kraftakt durchgepeitscht. In der Wintersession war dies bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) der Fall. Und in der Frühjahrssession 2017 ist bereits das nächste derartige Drama programmiert, beim Reformprojekt Altersvorsorge 2020.
Das Resultat dieser Hauruckübungen ist gelinde gesagt durchzogen. Bei der MEI wurde ein Gesetz beschlossen, das den Verfassungsartikel 121a höchstens punktuell umsetzt. Und bei der Rentenreform ist sogar ein Scheitern möglich, was niemandem nützen würde.
Zur Zuwanderungsinitiative wurde eigentlich schon zu viel geschrieben und gesendet. Der mediale Elefant steht in keinem Verhältnis zum Mäuschen, das am Ende geboren wurde. Die Hektik am Ende der dreijährigen Umsetzungsfrist ist nur bedingt die Schuld des Parlaments. Zu lange hat man in Bundesbern gehofft, die EU möge der Schweiz bei der Personenfreizügigkeit entgegen kommen. Spätestens mit dem Brexit verpufften die ohnehin minimalen Hoffnungen vollends.
Trotzdem bleibt ein mieses Gefühl zurück, denn die politischen Akteure zeigten eine wenig souveräne Leistung. Bundesrätin Simonetta Sommaruga gelobte anfangs, den Verfassungsauftrag «strikt» umzusetzen. Davon rückte sie sukzessive ab, als sich abzeichnete, dass die EU stur bleiben würde. Immerhin schlug die Justizministerin vor neun Monaten im Namen des Gesamtbundesrats eine einseitige Schutzklausel vor. Zuletzt war auch davon keine Rede mehr.
Die Parteien waren nicht besser, allen voran die FDP, die «Architektin» des nun vorliegenden «Arbeitslosenvorrangs». Im Ständerat setzte sie sich unter Federführung von Ex-Parteipräsident Philipp Müller für eine Verschärfung des Inländervorrangs light ein, inklusive Begründungspflicht bei Absagen an Stellensuchende. Nur wenige Stunden später kippten die FDP-Nationalräte in der zuständigen Kommission sie wieder. Eine solche Unverfrorenheit hat man in der Schweizer Politik selten erlebt.
Am Ende ging es nur darum, eine Pro-Forma-Lösung zu beschliessen, um via Kroatien-Protokoll die Teilnahme am EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 zu retten. Was sie konkret bringen wird, muss sich zeigen. Die Gefahr ist gross, dass der «Arbeitslosenvorrang» zum Papiertiger wird. «Der Arbeitgeber lädt geeignete Kandidatinnen und Kandidaten zu einem Bewerbungsgespräch oder einer Eignungsabklärung ein», heisst es im Gesetz. Das kann vieles – oder wenig – bedeuten.
AUNS-initiative zur Kündigung der Bilateralen? Endlich, denn das ist die Frage. Ist auch d Beweis, dass 121a kein Auftrag zur Kündigung war.
— Roger Nordmann (@NordmannRoger) December 16, 2016
Die SVP zog am Schlusstag eine Show ab, verzichtete aber auf ein Referendum. Könnte ja sein, dass das «Volk» Ja sagen und damit den «Verfassungsbruch» des Parlaments absegnen würde. Dafür will nun die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS), die sich seit Jahren im Tiefschlaf befindet, eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit lancieren. Sogar der politische Gegner zeigt sich erfreut, denn das ermöglicht einen Grundsatzentscheid.
Der Ist-Zustand ist unhaltbar, insbesondere nach der schwachen MEI-Umsetzung. «Die Schweiz braucht ein reinigendes Gewitter», kommentiert die NZZ. Das Stimmvolk muss sich dazu äussern, ob es am bilateralen Weg festhalten will, inklusive «Nebenkosten» wie der freie Personenverkehr. Das kann mit der AUNS-Initiative erfolgen oder mit dem Gegenvorschlag zur RASA-Initiative, den der Bundesrat anstrebt. Wichtig ist nur, dass der Volksentscheid vor den Wahlen 2019 stattfindet.
Deutlich früher sollen sich die Stimmberechtigten zur Altersvorsorge äussern, möglichst schon im nächsten September. Denn auch bei diesem Geschäft herrscht Zeitdruck. Ende 2017 läuft die zur IV-Sanierung beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent aus. Sie soll beibehalten werden, wobei 0,3 Prozent künftig an die AHV gehen. Damit kein kompliziertes und kostspieliges «Chrüsimüsi» entsteht, sollte die Rentenreform nahtlos Anfang 2018 in Kraft treten.
Dies gelingt nur, wenn die Beratungen im Parlament in der Frühjahrssession im März 2017 abgeschlossen werden. Dann kann die – obligatorische – Abstimmung im Herbst stattfinden. Derzeit liegen die Positionen zwischen National- und Ständerat, oder vielmehr zwischen FDP/SVP sowie CVP/SP, aber noch sehr weit auseinander.
Der Ständerat hat das Geschäft diese Woche zum zweiten Mal beraten und an seinem bisherigen Entscheid festgehalten. Das betrifft insbesondere den Zuschlag von 70 Franken pro Monat bei der AHV, mit dem die Senkung des Umwandlungssatzes bei den Pensionskassen von 6,8 auf 6 Prozent kompensiert werden soll. FDP und SVP sowie die grossen Wirtschaftsverbände sind vehement dagegen, sie wehren sich gegen eine «Vermischung» von erster und zweiter Säule.
In Wirklichkeit hätten diese (rechts-)bürgerlichen Player am liebsten eine Reform mit einem höheren AHV-Alter und tieferen Renten ohne Kompensation. Sie sind sich jedoch bewusst, dass diese Elemente für sich kaum mehrheitsfähig sind. Zusammen würden sie die Vorlage todsicher zum Absturz bringen. Niemand hat die Abstimmung über die Senkung des Umwandlungssatzes 2010 vergessen, die trotz aufwändiger Ja-Kampagne mit einer verheerenden Niederlage endete.
Also sucht insbesondere die FDP fieberhaft nach einem Modell, dass den Besitzstand bei den Renten garantiert. Nachdem sich die zuständigen Kommissionen während vieler Stunden mit dem komplexen Geschäft befasst hatten, zauberte sie im September kurz vor den Beratungen im Nationalrat einen Vorschlag aus dem Hut, der eine deutliche Erhöhung der Beiträge an die Pensionskassen vorsieht. Der tiefere Umwandlungssatz soll damit ausgeglichen werden.
Im Ständerat bissen die Freisinnigen mit diesem «Schnellschuss» auf Granit, er beharrt auf den 70 Franken AHV-Zuschlag. Nun sind die Fronten verhärtet. Die FDP teilte mit, sie könne der AHV-Erhöhung «unter keinen Umständen» zustimmen. «Selbst der Status Quo wäre besser als die Option des Ständerats», schrieben Arbeitgeberverband und Economiesuisse.
Ein Scheitern aber kann niemand ernsthaft wollen. Deshalb hat die unterlegene Seite im Ständerat Kompromissvorschläge gemacht. Leute mit tiefen Einkommen sollen früher in Pension gehen können, ausserdem ist eine Rentengarantie für alle vorgesehen, die bei Inkrafttreten der Reform 45 Jahre und älter sind. Dennoch spricht vieles für die Lösung des Ständerats. Sie ist nicht perfekt. So profitieren heutige Rentner nicht von den 70 Franken. Aber sie läuft auf das hinaus, was unser System stets ausgezeichnet hat: Einen gut eidgenössischen Kompromiss.
Die Querelen um die MEI-Umsetzung und mehr noch um die Altersvorsorge 2020 stimmen nachdenklich. Man fragt sich, ob unsere Milizparlament mit den zunehmend komplexeren Vorlagen nicht überfordert ist. Das ist kein Plädoyer für Berufspolitiker, auch sie kochen nur mit Wasser. Kommt aber der Zeitdruck hinzu, wächst die Gefahr, dass es zu unausgegorenen «Lösungen» kommt. Und das viel gerühmte Schweizer Politsystem an seine Grenzen stösst.
Entgegen der verbreiteten Ansicht von der Überforderung des Milizsystems bin ich dezidiert der Auffassung, dass die politischen Geschäfte (absichtlich?) komplett überladen sind.
Das könnte auch kein Berufsparlsment lösen. Bsp Vorsorge warum AHV, Umwandlungssatz, IV, PK und MwSt in EINE Vorlage packen? Das geht doch nicht!
Das gibt ein Njet / Nope / Nein wie das Amen in der Kirche :(