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Analyse

Der EU-Beitritt ist kein Ausweg aus der europapolitischen Sackgasse

Ein Mitglied der NEBS, Neue Europaeische Bewegung Schweiz, traegt ein T-Shirt auf dem die Schweiz und die Europa-Flagge abgebildet sind, am Samstag, 10. Mai 2014 waehrend der Generalversammlung der NE ...
Die Schweiz als Teil der EU ist eine schöne Idee, aber sie ist nicht realistisch.Bild: KEYSTONE
Analyse

Der EU-Beitritt ist kein Ausweg aus der europapolitischen Sackgasse

Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ist blockiert. Der von der SP propagierte EU-Beitritt aber ist illusorisch. Der Bundesrat muss vielmehr einen realistischen «Plan B» vorlegen.
29.12.2021, 09:0830.12.2021, 09:08
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Der «Showdown» ist vertagt. Weil das Jahrestreffen des World Economic Forum (WEF) in Davos der Omikron-Variante des Coronavirus zum Opfer fällt, kann auch die Begegnung von Aussenminister Ignazio Cassis mit dem für die Schweiz zuständigen EU-Kommissar Maros Sefcovic nicht stattfinden. Cassis dürfte darüber nicht unglücklich sein.

Ihre erste Begegnung Mitte November in Brüssel verlief gelinde gesagt holprig. Cassis und Sefcovic waren sich über das weitere Vorgehen überhaupt nicht einig. Während sich die Schweiz vorerst auf einen diffusen «politischen Dialog» mit der EU beschränken will, fordert die Brüsseler Kommission eine klar definierte «Roadmap».

Der Bundesrat Ignazio Cassis anlaesslich der Eroeffnung des Europa Forum Lucerne 2021 vom Mittwoch, 24. November 2021 in Luzern. (KEYSTONE/Urs Flueeler).
Die Schweiz solle sich von der EU nicht unter Zeitdruck setzen lassen, sagte Ignazio Cassis Ende November am Europa-Forum in Luzern.Bild: keystone

Diese soll auch die institutionellen Fragen beinhalten. Cassis hätte sie nach dem Willen des slowakischen EU-Kommissars in Davos vorlegen sollen. Das bleibt ihm für den Moment erspart, doch die EU wird eher früher als später einen neuen Termin vorschlagen, denn auf ein esoterisches «Gschpürsch mi»-Seminar mit der Schweiz hat sie keine Lust.

Ärger und Unverständnis

Nach wie vor herrschen in Brüssel Ärger und Unverständnis über den Bundesrat, der im April die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen einseitig für beendet erklärt hatte. Man darf von einem Tiefpunkt dieses Jahres sprechen, denn damit hat er die Schweiz mutwillig in eine Sackgasse manövriert, ohne einen «Plan B» vorzulegen.

Das nützt die EU-Kommission weidlich aus. Sie hat so ziemlich alles blockiert, woran die Schweiz ein Interesse haben könnte, von den Bildungs- und Forschungsprogrammen Horizon Europe und Erasmus+ bis zur Aufdatierung von Marktzugangs-Abkommen. Derzeit ist die Medizinaltechnik betroffen, als nächstes vielleicht die Maschinenindustrie.

UNO wichtiger als EU-Dossier

Eine Antwort darauf haben der Bundesrat und sein Aussenminister bis heute nicht gefunden. Ignazio Cassis hat in der Europafrage vor allem Allgemeinplätze und Ausflüchte zu bieten. Man wird den Verdacht nicht los, dem Tessiner sei in seinem anstehenden Präsidialjahr der Schweizer Sitz im UNO-Sicherheitsrat wichtiger als das ungeliebte EU-Dossier.

Dieses «Vakuum» wird durch gut gemeinte Vorschläge gefüllt, die primär eine Wunschliste an die EU sind. Was diese meint, ist zweitrangig. «Ich weiss nicht, ob es wahnsinnig geschickt ist, jetzt wieder mit Vorschlägen zu kommen, die der Partner als Rosinenpickerei betrachtet», meinte die Zürcher GLP-Nationalrätin Tiana Angelina Moser im watson-Interview.

SP im Dilemma

Selbst SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi, der in der Europapolitik den Gegenpol zu den Grünliberalen bildet, war letzte Woche bei einem Gespräch mit Medienvertretern über diese «Einweg-Kommunikation» erstaunt. Für die SVP ist der Fall klar. Sie kann mit dem Status Quo (vorerst) leben. In einer heiklen Lage befindet sich hingegen vor allem die SP.

Sie hat sich von den Gewerkschaften ins Nein-Lager beim Rahmenabkommen (Stichwort Flankierende Massnahnmen) dirigieren lassen. Umfragen zeigen jedoch, dass wohl nur die GLP-Wählerschaft noch europafreundlicher ist als jene der Sozialdemokraten. Aus diesem Dilemma versucht sich die SP mit mehr oder weniger plausiblen Vorschlägen zu befreien.

Schweizer Mühe mit EU-Recht

Selbst der EU-Beitritt ist kein Tabu. Fraktionschef Roger Nordmann bezeichnete ihn im Interview mit watson als «die beste Option, davon bin ich überzeugt». Aus demokratischer Sicht sei es am besten, «Teil dieser Institutionen zu sein, um an Entscheidungen teilzuhaben, die uns letztendlich immer betreffen», meint Nordmann. So weit, so nachvollziehbar.

Ein EU-Beitritt aber ist auf absehbare Zeit illusorisch, nicht nur weil er in Umfragen unpopulär ist. Wie soll die Schweiz der EU beitreten, wenn sie sich schon damit schwer tut, neues EU-Recht in jenen Bereichen zu übernehmen, in denen sie als Nichtmitglied am Binnenmarkt teilnehmen will? Das betrifft nicht nur heikle Fragen wie den Lohnschutz.

Es droht der Drittlandstatus

Derzeit favorisieren viele in der Schweiz die Idee, die «dynamische» Rechtsübernahme innerhalb der bestehenden Abkommen zu regeln, ohne institutionellen Rahmen. Dabei schwingt unausgesprochen die Hoffnung mit, man könne das umstrittenste Abkommen, die Personenfreizügigkeit, ausklammern. Das aber werde «nicht funktionieren», meint die NZZ.

Was die Schweiz braucht, ist eine realistische Einschätzung ihrer Beziehung zum Nachbarn und wichtigsten Handelspartner. Helfen könnte ein Gastbeitrag von Jean-Daniel Gerber, dem früheren Staatssekretär für Wirtschaft, in der NZZ. Er befürchtet, dass die Schweiz in einen Drittlandstatus abrutscht, «vergleichbar mit jenem einiger osteuropäischer Nachbarländer».

Bekenntnis zu starkem Europa

Die Gefahr ist reell. Ein Schweizer EU-Korrespondent erzählte mir, dass er in Brüssel immer öfter vor verschlossener Türe stehe. Die Schweiz werde ähnlich wie die Ukraine behandelt. «Im Kontext der immer konkreter werdenden Aufteilung der Welt in drei Hegemoniezonen kann sich die Schweiz eine Abkapselung von Europa schlicht nicht leisten», meint Gerber.

Er fordert von der Schweiz ein «Bekenntnis zum Aufbau eines starken Europa». Damit könne sie der Vorstellung entgegentreten, die Schweiz versuche vom Binnenmarkt zu profitieren, wo es ihr nützt, und gleichzeitig «möglichst wenig dafür zu bezahlen und sich der einheitlichen Rechtsprechung zu entziehen». Es ist der klassische Rosinenpicker-Vorwurf.

Mitgliedsländer leisten viel mehr

Jean-Daniel Gerber spricht einen wichtigen Punkt an. Die Zeiten sind vorbei, in denen die EU die bilateralen Verträge als Vorstufe zum Beitritt der Schweiz betrachtete. Diese Illusion hat man in Brüssel längst aufgegeben. Umso mehr beharrt man auf einer institutionellen Regelung der Rechtsübernahme und auf regelmässigen Kohäsionszahlungen.

Das Argument, die Schweiz leiste auch viel für die EU mit Handelsbilanzüberschüssen, den Alpentransversalen oder der Beschäftigung von Grenzgängern, wischt Gerber mit einem schlagenden Argument vom Tisch: Die EU-Mitgliedsländer würden «ein Mehrfaches an Leistungen zum Aufbau Europas beitragen als die Schweiz».

Schweiz bleibt Bittstellerin

Das Verhältnis auf «Augenhöhe», über das viele hierzulande schwadronieren, existiert in Tat und Wahrheit nicht. Die Schweiz wird als Nichtmitglied eine Bittstellerin bleiben. «Die Schweiz ist gut beraten, die Grössenverhältnisse realistisch einzuschätzen», kommentiert auch die NZZ. Es wäre zumindest ein Anfang, um einen realistischen Neustart zu wagen.

Ein Abstimmungstand und Plakate der Gegner der Abstimmungskampagne zum EWR-Beitritt, aufgenommen im November 1992. (KEYSTONE/Str)
Wird der EWR 30 Jahre nach der Ablehnung auf einmal wieder eine Option?Bild: KEYSTONE

Der Bundesrat hat dazu einen Vorentscheid gefällt. Mario Gattiker, der auf Ende Jahr pensionierte Staatssekretär für Migration, soll laut Tamedia-Zeitungen ausloten, «welche Anpassungen des Schweizer Rechts an EU-Recht innenpolitisch mehrheitsfähig sein könnten». Ansonsten aber scheint die Diskussion innerhalb der Landesregierung nicht weit gediehen zu sein.

Bleibt nur der EWR?

Ewig wird man die EU aber nicht hinhalten können. Für sie haben die Bilateralen in ihrer heutigen Form ohnehin ausgedient, wie GLP-Nationalrätin Tiana Moser festgestellt hat: «Den bisherigen Sonderweg gibt es nicht mehr. Wenn wir den bilateralen Weg wollen, müssen wir die institutionellen Fragen klären, oder wir streben irgendwann den EWR an.»

Der EU-Beitritt mag keine Option sein, doch es wäre eine bizarre Ironie, wenn die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 30 Jahre nach der Ablehnung durch das Stimmvolk am Ende die einzige für die Schweiz gangbare Lösung wäre. Wenn der Bundesrat weiter auf Zeit spielt, hat er womöglich irgendwann keine andere Wahl.

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190607 Bundesrat-PK zu Rahmenabkommen
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266 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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BG1984
29.12.2021 09:58registriert August 2021
Schweiz und Großbritannien in den EWR, dann hat der EWR mehr Gewicht. Zu den EWR Ländern haben wir sowieso eine besonders gute Beziehung.
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ingmarbergman
29.12.2021 10:42registriert August 2017
Die Frage ist, ob der EWR überhaupt neue Mitglieder aufnimmt. Seit 1995 wurde kein neues Land in den EWR aufgenommen, das nicht auch gleichzeitig (bzw. vorher) der EU beigetreten ist.

Um es mit einer Analogie zu sagen: Der EWR ist ein Legacy-Produkt, das nur noch Patches erhält, aber nicht für Neukunden erhältlich ist.
Die Schweiz verhält sich wie jemand, der noch immer auf MS-DOS unterwegs ist, und jetzt wo Windows 11 der Standard ist, fragt man nach, ob man Windows 95 haben möchte.

Wäre schön wenn die Journalisten realistische Wege diskutieren und nicht hypothetische Ideen.
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Sarkasmusdetektor
29.12.2021 12:58registriert September 2017
EWR-Beitritt möglichst bald fänd ich super. Einfach nur schon, damit Blocher ihn noch erlebt.
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