Die Berichte und Bilder gehen unter die Haut: Ein Lastwagen auf einer österreichischen Autobahn, in dem 71 Menschen den Erstickungstod finden, das Bild einer Kinderleiche, die am Strand vor der türkischen Stadt Bodrum angeschwemmt wurde, tausende syrische Flüchtlinge, die in Budapest verzweifelt auf eine Passage Richtung Westen hoffen. Die Flüchtlingskrise ist allgegenwärtig – die Schweiz ist allerdings kaum direkt betroffen. Der erwartete Flüchtlingsansturm in Buchs SG am vergangenen Dienstag blieb aus – statt der Massen kamen fünf Menschen: Eine Familie mit Kleinkind aus Syrien und ein Mann aus Afghanistan.
Trotzdem: In der Schweiz kommt Bewegung in die Flüchtlingshilfe – wenn auch aus einem anderen Spektrum. «Wir werden regelrecht überrennt von hilfsbereiten Bürgern», sagt Alexandra Müller, Geschäftsleiterin des Solinetz. Der gemeinnützige Verein setzt sich mit verschiedenen Projekten für Flüchtlinge in der Schweiz ein: Von Deutschkursen über Mittagstische bis hin zu Besuchen in Ausschaffungsgefängnissen.
Momentan gebe es ungefähr dreimal so viele Anfragen von Personen, die das Solinetz unterstützen möchten wie üblich, so Müller. Das Solinetz hat Mühe, alle die Freiwilligen unterzubringen. Müller wäre froh, wenn die hilfsbereiten Bürger etwas mehr Eigeninitiative zeigen würden: «Es braucht doch gar nicht viel und auch kleine Gesten sind enorm wichtig. Gehen Sie einfach in ein Asyzentrum in Ihrer Nähe und geben Sie den geflüchteten Menschen ein Zeichen, dass sie hier willkommen sind.»
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der HEKS. «Wir spüren, dass eine Solidaritätswelle durch die Bevölkerung geht», sagt Dieter Wüthrich, Kommunikationsverantwortlicher des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz. «Die Spendenbereitschaft nahm in den vergangenen Tagen zu, und auch bei Anfragen von Privatpersonen, die sich direkt für Flüchtlinge engagieren möchten, ist eine deutliche Steigerung feststellbar».
Auch bei der Caritas stellt man eine zunehmende Solidarität in der Bevölkerung fest. «Wir haben das Gefühl, es passiert etwas», sagt Mediensprecherin Dominique Schärer. Vor allem dringend benötigte Spenden seien merklich gestiegen.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe, ein Dachverband von Hilfswerken, verzeichnet pro Tag fünf bis zehn Anmeldungen von Privatpersonen für das Projekt «Private Unterbringung», bei dem anerkannte Flüchtlinge ein Zuhause bekommen. Insgesamt habe man in diesem Jahr bereits über 500 Anmeldungen gezählt, sagt Stefan Frey, Mediensprecher der FSH. Zum Vergleich: 2014 waren es noch knapp 350.
Was sind die Gründe für die zunehmende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung? Die Zahlen der Flüchtlinge, die die Schweiz erreichen, bleibt stabil, auch, weil die Flüchtlinge, die in den letzten Tagen über die Balkanroute nach Europa kommen, mehrheitlich andere Länder ansteuern: Die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak stammenden Flüchtlingen wollen in erster Linie nach Deutschland und Skandinavien, wo sich bereits grössere syrische und irakische Exil-Gemeinden befinden.
«Die Leute sind sicherlich sensibilisiert durch die Berichterstattung», sagt Wüthrich von HEKS. «Ähnlich wie bei grossen Naturkatastrophen sagen sich die Leute: Wir können nicht länger zusehen.» Dass die Schweiz selber nicht unmittelbar Ziel des Flüchtlingsstroms ist, sei unerheblich. «Diese Szenen spielen sich nicht am anderen Ende der Welt ab, sondern vor unserer Haustür.»
Für Dominique Schärer von der Caritas ist klar: «Die Schweizer haben realisiert, dass diese Menschen nach Europa kommen, weil sie auf der Flucht sind. Dass sie dafür ihr Leben riskieren, lässt die Schweizer nicht länger kalt» Die Schicksale der Menschen, die auf der Flucht ihr Leben riskieren, lässt die Schweizer nicht länger kalt, so Schärer.
Es sind aber nicht nur die menschlichen Tragödien im Mittelmeer und auf dem Balkan, die einen Umschwung herbeigeführt haben: Dass die rechten Parteien Wahlkampf auf dem Buckel der Flüchtlinge geführt haben, stosse ebenfalls vielen sauer auf, meint Stefan Frey von der FSH. «Die Menschen in der Schweiz haben genug von der ewigen Pöbelei gegen Flüchtlinge. Jetzt geben sie Gegensteuer». (wst)
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Bei der Flüchtlingshilfe Schweiz haben sich über 500 Schweizerinnen/Schweizer gemeldet, welche gerne Flüchtlinge bei sich zuhause aufnehmen würden.
Leider verlangsamt die Bürokratie den ganzen Prozess.