Schweiz
Bern

«Müslüms Lied damals gegen die Schliessung der Reitschule war viel wirkungsvoller als jeder Dialog»

Semih Yavsaner alias Müslüm im Interview über die Reitschule und die wahren Arschlöcher dieser Welt.   
Semih Yavsaner alias Müslüm im Interview über die Reitschule und die wahren Arschlöcher dieser Welt.   Bild: Muve Recordings

«Müslüms Lied damals gegen die Schliessung der Reitschule war viel wirkungsvoller als jeder Dialog»

Nach einem Angriff auf die Polizeistation am Berner Waisenhausplatz steht die Reitschule wieder hart im Gegenwind. Der einstige Reitschul-Sympathisant Müslüm kann mit der Gewalt wenig anfangen.
06.03.2015, 14:1207.03.2015, 17:13
Rafaela Roth
Folge mir
Mehr «Schweiz»

Müslüm, du kommst gerade aus Hamburg und willst nach Bern. Hast du jetzt für die Zwischenzeit hier im Hotel Renaissance ein Zimmer oder was?
nain, waisch du, letschte woche war ich an de siwiss müsich afarts, dann hab ich ain paar sache liege lasse, ich bin bechannt für maine afterschowpartys ...

Ach so, ich verstehe. 
Neeei, i wott jetzt nid aus Müslüm! Chum la mi eifach la Semih sii, schnäu, wöu es isch huere müehsam, di ganz ziit, weisch?

Ach du findest es mühsam? Ist Müslüm nicht wie eine zweite Haut? 
Nein, nein. Weisst du, die Show ist da, wenn die Energie da ist. Und was ist das hier für eine Umgebung? 

Ist komisch hier, nicht wahr? Schräge Menschen.
Also, wie heisst du noch mal? 

Zur Person 
Müslüm ist eine vom Berner Semih Yavsaner erschaffene Künstlerfigur, ein türkischer «Süper-Immigrant» mit bemerkenswertem Akzent, der nach eigenen Aussagen «die kranke Gesellschaft mit seinem Süpervitamin heilen» will. Müslüms Karriere begann mit Telefonscherzen beim Berner Radio Rabe. Einer grösseren Öffentlichkeit bekannt wurde Müslüm 2010 mit dem Polit-Song «Erich, warum bisch du nid ehrlich», mit dem er sich gegen die Schliessung der Berner Reitschule einsetzte. Der heute 35-jährige Semih Yavsaner tourt mit seinem neuen Album «Apochalüpt» ab dem 13. März in der ganzen Schweiz. (rar)

Rafaela, mit einem f.
Du kennst es nicht mal, oder? 

Also was, das neue Album? 
Ja. Sorry!?

Nicht so gut.  
Eeey, is nat cool ... Ja, Rafaela, shit, jetzt sind wir hier voll politisch unterwegs, wegen dem Reitschule-Zeugs? 

Richtig.
Was soll ich sagen? Ich bin über Radio Rabe an die Reitschule gekommen. Das war damals das Medium der Reitschule – alternatives Radio, alternative Szene. Deswegen hat sich das ergeben, dass ich mich für etwas eingesetzt habe, das sich mit dem Gedanken solidarisiert, dass man gegen die Monokultur ist und Vielfalt stattfinden lässt – unter anderem auch in der Reitschule. Und auf Radio Rabe, wo ich vor etwa sieben Jahren den Müslüm erweckt habe. Das war eine zufällige Begegnung mit der Reitschule. 

«Die Reithalle ist einer der letzten Orte, an dem nicht die Norm sondern die Kunst regieren kann.» 

Du warst vorher nicht in der Reitschule?
Doch schon. Aber womit die Reitschule heute Schlagzeilen macht, finde ich bedenklich. Es geht immer nur um den Schwarzen Block. Trotzdem ist die Reithalle aus Bern nicht wegzudenken. Es ist einer der letzten Orte, an dem nicht die Norm sondern die Kunst regieren kann. 

Was hältst du denn vom Schwarzen Block in der Reitschule?
Ich distanziere mich von jeglicher Form von Konfrontation, die nichts mit mir zu tun hat. Ausserdem habe ich keine Lust schon bestehende, schwierige Dialoge zu recyceln. Ich konfrontiere mit meinem künstlerischen Schaffen. Diese Probleme mit Worten lösen zu wollen, ist sowieso der falsche Ansatz.  

Eine neue Studie von Basler Soziologen über die Reitschule streicht genau die Wichtigkeit vom Dialog zwischen Stadt und Reitschule heraus. 
Müslüms Lied damals gegen die Schliessung der Reitschule war viel wirkungsvoller als jeder Dialog. Und das zeigt genau, dass die Kunst viel mehr leisten kann als die konventionelle Art Probleme zu lösen. Aber seit damals habe ich mich weiterentwickelt. Ich ziele nicht mehr auf Hess oder Mörgeli. Ich wurde viel tiefgründiger. Wenn du das Album hörst, wirst du es sehen.

Müslüms erster Hit: «Erich, warum bisch du nid ehrlich?»

Also erzähl mal von deinem Album – und seiner Tiefgründigkeit. 
Ich war längere Zeit in Istanbul und habe mit einem arabischen String-Orchester zusammengearbeitet. Solche Klänge hat es in der Schweiz bisher noch nie gegeben. Es ist ein einzigartiger Mix von Musik. Die westliche und die arabische Welt bringen im Moment genau gar nichts miteinander zu Stande, auf meinem Album schon. Das ist tiefgründig. Und dies sogar noch unter dem Titel «Apochalüpt». 

«Der Apokalypt ist ein neuer Typus Mensch. Wer die Umwelt verschmutzt, ist nicht ein Arschloch, er ist ein Apokalypt.»
No Components found for watson.skyscraper.

Was heisst das denn genau? 
Ein Apokalypt ist einer, der dazu beiträgt, dass die Apokalypse wahr wird. Es ist ein neuer Typus Mensch. Wer die Umwelt verschmutzt, ist nicht ein Arschloch, er ist ein Apokalypt. Wer die Menschen nicht respektiert, ist kein Wixer, er ist ein Apokalypt. Er ist letztendlich der Grund, warum alles an den Arsch geht. 

Alles? 
Du siehst ja, wie alles an den Arsch geht! Schau dir die weltpolitische Situation an, die Umwelt, die Lage der Wirtschaft, die apathischen Menschen, die nur noch ihre Smartphones streicheln. Sie sehen das Kapital als Erleuchtung, bis sie merken, dass sie Geld nicht essen können. 

Vom neuen Album: «Hello! Hier spricht dain Ego!»

Und was tut Müslüm dagegen? 
Müslüm spricht aus den Herzen der Menschen. Er sagt, was sich niemand zu sagen wagt. Er ist menschlich. Genau das ist, was immer mehr verloren geht. Der Künstler ist der Letzte in der Gesellschaft, der die Gesellschaft ohne Kapital mitformen kann. Das tue ich.  

Die Reitschule
Die Berner Reitschule ist nach einem Anschlag auf eine Polizeiwache vor zwei Wochen wiederholt in Kritik geraten. Die Täter sollen nach dem Anschlag in die Reitschule geflüchtet sein. Nun wird die Angelegenheit zur Chefsache: Ab sofort kümmert sich Stadtpräsident Alexander Tschäppät persönlich um den Dialog mit der Reithalle. Eine von der Stadt in Auftrag gegebene soziologische Studie betonte, wie wichtig die Aufrechterhaltung des Gesprächs und die Zusammenarbeit in Form von Leistungsverträgen mit der Reitschule sind. Der Kulturbetrieb in der Reitschule wird seit Langem überschattet von Krawallen, Angriffen auf die Polizei und vom Drogenhandel auf dem Vorplatz der Reitschule. (rar)

Was hast du denn gemacht, bevor du Müslüm warst?
Ich war. I was. Not that succesfull. But I was. 

Du hast nie eine Ausbildung gemacht? 
Nein.

Du bist einfach gehängt? 
Ich habe ein sehr konventionelles Hobby-Künstler-Leben geführt. Ich habe mich mit Jobs über Wasser gehalten; Call Center, Swisscom, Telekommunikation, auf dem Bau, als Pizzaiolo, weisst du? Deswegen kann ich ja in diese Figur so viel reingeben. Und die Menschen wissen, dass es echt ist. Das ist ja das Schöne daran. Weil viele da draussen haben nichts, was sie aus einer Notwendigkeit heraus tun. Sie haben keine Not. Es gibt nicht mal mehr Luxusgüter, die sie befriedigen könnten. Sie haben ja schon alles. 

«Deswegen ist Müslüm auch ein Erfolg. Die Menschen erkennen seine Selbstverständlichkeit.»

Kommt jetzt die Sinnfrage? 
Ja. Es geht nur noch um Selbstverwirklichung. Aber du kannst gar nichts mehr werden. Weil du bist schon, was du bist. Du wirst nicht, was du bist, du bist, was du bist. Christiano Ronaldo hatte von klein auf eine Affinität für Fussball, eine Beziehung zu diesem Ding. Er hat aus einer Selbstverständlichkeit heraus Fussball gespielt. Die ganz grossen Geschichten kommen aus dem Innersten heraus, verstehst du? Die kommen aus einer Dringlichkeit. Das musst du machen, sonst erfährst du kein Glück. Deswegen malt Picasso und dreht Fatih Akin Filme. 

Und Müslüm ...
... macht Müslim! Das ist selbstverständlich. Deswegen ist Müslüm auch ein Erfolg. Die Menschen erkennen seine Selbstverständlichkeit. Heute wird nur noch nachgedacht und nachgedacht und nachgedacht. Dann ist es nicht mehr selbstverständlich. Eine Melodie ist viel höher als unsere Worte, verstehst du? Aber heute bauen wir nur alles auf, um möglichst so zu wirken, wie wir wirken wollen. 

Darf ich mal deine Pupillen anschauen? 
Hey, ey, ey, ey, ey! Ey, sorry Mann?! Ich bin clean. 

Du redest wie ein Wasserfall. 
Ja, aber Sorry, das ist mein Job, Mann. Ich bin geschwächt. Ich bin noch nicht mal in Form und nichts. Ich habe praktisch zwei Nächte durchgearbeitet und zwar schön gesittet, im Stadttheater in Hamburg. Deswegen trage ich eine Sonnenbrille. Siehst du, andere nehmen was und ich war schon immer so drauf. Das ist eben diese Selbstverständlichkeit, von der ich spreche. 

«Ich sehe, dass die Welt an den Arsch geht und ich mache das, was die Menschen wieder zusammen bringt.» 
No Components found for watson.skyscraper.

Aber du verzweifelst ja. Du findest die Welt geht an den Arsch und die Apokalypse ist nah.
Aber ich tue was dagegen. Ich sehe, dass die Welt an den Arsch geht und ich mache das, was die Menschen wieder zusammen bringt. Und das ist meine Scheibe, verstehst du? Das ist meine Medizin, das ist mein Süpervitamin. Das verstreue ich. Und zu einer Zeit, in der die westliche und die arabische Welt nicht zueinander finden können, ist das genau das, was wir brauchen. 

Können wir zum Schluss nochmals über die Reitschule reden, nur so für den Rahmen? Wie kann man in Bern aufwachsen und nicht in der Reitschule rumhängen? 
Ich hing mehr so am Bahnhof rum. 

Und noch einer fürs Wochenende: «Chumm, las la bambele!»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
22 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
22
Franz Carl Weber verschwindet: Die Magie war schon lange weg
Für Generationen von Kindern war Franz Carl Weber ein Synonym für Spielzeug. Nun lässt der deutsche Eigentümer die Marke sterben, doch der Niedergang begann vor langer Zeit.

In meiner Kindheit gab es einen magischen Ort. Er befand sich an der Bahnhofstrasse in Zürich und verkaufte, was das Kinderherz begehrte. Franz Carl Weber (FCW) hiess das Spielzeugparadies mit dem Schaukelpferd – oder «Gigampfi-Ross» – im Logo. Wenn wir in Zürich waren, wollte ich in den «Franzki», zur überschaubaren Begeisterung meiner Eltern.

Zur Story