Die Aufnahme auf Glasplatte aus den 30er-Jahren ist eine Perle aus dem Bildarchiv: Foto-Pionier Carl Simon hat sie an der Gondoschlucht in den Walliser Alpen gemacht. Heile Welt – ein Bild von einer Schweiz, die mancher zu verlieren fürchtet.
Dabei sind die Unterschiede zwischen der heutigen Schweiz und der vor 100 Jahren in mancher Hinsicht gar nicht so gross. Auch damals führten technische Neuerungen zu einem gesellschaftlichen Wandel: Beschleunigung und Vernetzung – früher durch Verkehrsmittel wie Bahn und Auto, heute durch digitale Medien in einer globalisierten Welt – verunsichern und steigern die Sehnsucht nach Bewährtem.
Wenn etwas anders ist, dann doch der Status der Schweiz: der Aufstieg vom Bauernstaat zur Industrie- und Dienstleistungsgrösse, der immer schon von Menschen mitgetragen worden ist, die ursprünglich hier nicht ihre Heimat hatten. Vom italienischen Bauarbeiter im Gotthard bis zum Niederländer Willem Jan Holsboer, dem Mitbegründer der Rhätischen Bahn. Der Tunnel, der für Helvetias wirtschaftliche Potenz steht, und die Eisenbahn, die das Engadin touristisch erst erschlossen hat, haben Menschen anderer Nationen in die Schweiz gebracht: Selbst nationale Symbole sind international beeinflusst.
Die Bergbahnen brachten Touristen, die ebenso wieder gegangen sind wie der Deutsche Carl Simon, dessen Fotos sie in die Schweiz gelockt hat. Für andere «Entwicklungshelfer» ist das Land, das sie mitmodernisierten, zu einer Bleibe, zu Heimat geworden. Ihre Art hat die helvetische Kultur bereichert, in der sie aufgegangen sind. So wie bei den italienischen «Gastarbeitern» oder etwa dem Niederländer Holsboer. Der starb 1898 in Schinznach-Bad AG.
Wer heute also das Postkarten-Bild der Schweiz der 30er-Jahre betrachtet und meint, damals sei die Welt noch in Ordnung gewesen, verkennt, dass die Schweiz zu dieser Zeit ebenso viele Herausforderungen zu meistern hatte. Heute wissen wir: Sie ist der Unsicherheit jener Tage mit mutiger Entschlossenheit und kluger Weitsicht begegnet. Sie hat ihr Potenzial zum positiven Wandel unter Beweis gestellt. Sie hat – nicht ohne Konflikte, aber doch erfolgreich – Vielfalt integriert. Zur der Kultur, die wir am 1. August feiern. Eine reife Leistung eigentlich: Statt Wehmut auszulösen, könnte das schöne alte Postkarten-Idyll ja auch ein Ansporn sein?
Doch ohnehin versteht wohl jeder unter Heimat etwas anderes. Bezirk, Quartier, Strasse: Das Lokale birgt oft die lebendigsten Erinnerungen an Heimat. Oder hälst du es mit Max Frisch, der sagte: «Heimat entsteht aus einer Fülle von Erinnerungen, die kaum noch datierbar sind. Fast meint man: diese Landschaft kennt dich (mehr als du es vielleicht willst), diese Kiesgrube, dieser Holzweg ...»? Denkst du bei dem Wort an Freunde und Familie? Wir wollen wissen: Was bedeutet Heimat für dich?