Die Wahl von Nationalrat Guy Parmelin in den Bundesrat Ende 2015 war aus mehreren Gründen ein denkwürdiges Ereignis. Der Waadtländer Weinbauer hatte der SVP einen zweiten Sitz in der Landesregierung verschafft und damit die arithmetische Konkordanz wiederhergestellt. Mit ihm erhielt die Romandie auch einen dritten Bundesrat, was es zuvor nur selten gegeben hatte.
Verstärkt wurde diese «Westlastigkeit» durch die Tatsache, dass mit Simonetta Sommaruga und Johann Schneider-Ammann bereits zwei Berner der Landesregierung angehörten. Was nicht allen gefiel, wie selbst das neue Mitglied zugeben musste: «Der Bundesrat neigt nun vielleicht ein wenig sehr nach Westen», sagte Guy Parmelin an seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl.
Nun tritt mit Didier Burkhalter aus dem ehemals preussischen Fürstentum Neuenburg ein Romand zurück, dennoch könnte sich am Status quo nichts ändern. Die FDP will seinen Sitz erneut an die lateinische Schweiz vergeben. Darum bewirbt sich die Waadtländer Nationalrätin Isabelle Moret. Sie wurde von ihrer Kantonalpartei am Donnerstag offiziell nominiert.
Als Favorit gilt der Tessiner Ignazio Cassis, doch Moret ist nicht chancenlos. Als Frau geniesst sie Sympathien bei Linken und Grünen. Auch Deutschschweizer Männer mit Bundesrats-Ambitionen könnten sie wählen, damit die leidige Frauenfrage vom Tisch ist. Mit Moret käme es jedoch zu einer doppelten Doppelvertretung: Bern und Waadt hätten je zwei Sitze und damit die Mehrheit im Bundesrat.
Das wäre nicht ohne Pikanterie, denn während knapp 300 Jahren war die Waadt ein bernisches Untertanengebiet. Greift damit das Alte Bern wieder nach der Macht, wie der «Tages-Anzeiger» mutmasst? Zumindest lebt die Debatte um die Differenzen zwischen «Burgundern» und «Alemannen» wieder auf. Die Burgunder, zu denen der westliche Landesteil inklusive Bern gezählt wird, gelten als zentralistischer und etatistischer als die Alemannen im Osten.
Ganz falsch ist das nicht, die Welschen sind tendenziell staatsgläubiger. Ein neuer Burgunder-Krieg aber wirkt in der Schweiz des 21. Jahrhunderts reichlich anachronistisch. Der Banker Konrad Hummler bezeichnete die Einteilung in Burgunder und Alemannen vor zwei Jahren in der «SonntagsZeitung» als «schlicht rassistisch».
Eine Debatte über die geographisch einseitige Zusammensetzung des Bundesrats ist dennoch legitim, denn in der Bundesverfassung wird ausdrücklich verlangt, dass «die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind». Ignazio Cassis würde diese Vorgabe mehr als erfüllen, denn die italienische Schweiz hat seit 18 Jahren keinen Bundesrat mehr gestellt.
Früher gab es einen Mechanismus, der ein regionales Übergewicht zumindest erschwerte: die Kantonsklausel. Sie besagte, dass kein Kanton mehr als eine Vertretung im Bundesrat stellen konnte. Als Kriterium galt ursprünglich nicht der Wohnsitz, sondern das Bürgerrecht. Was zu absurden Situationen führte, etwa als Lilian Uchtenhagen 1983 als erste Frau in den Bundesrat wollte.
Die SP-Nationalrätin stammte aus Olten. Sie lebte und politisierte im Kanton Zürich, der bereits im Bundesrat vertreten war. Trotzdem durfte sie kandidieren, denn durch ihre Heirat hatte sie das Baselbieter Bürgerrecht ihres Ehemannes Ambros Uchtenhagen übernommen (oder übernehmen müssen). Lilian Uchtenhagen wäre somit als Bürgerin eines Kantons in den Bundesrat eingezogen, zu dem sie so gut wie keinen Bezug hatte.
Bei der Schlammschlacht gegen sie spielte dieser Aspekt eine Rolle, am Ende wählten die Bürgerlichen an ihrer Stelle den Solothurner Otto Stich. Die Kantonsklausel wurde danach revidiert, sie richtete sich nun nach dem Wohnsitz. Auch das löste nicht alle Probleme. 1993 zog die in Bern wohnhafte Ruth Dreifuss kurz vor ihrer turbulenten Wahl im Schnellverfahren nach Genf, wo sie aufgewachsen war. Denn mit Adolf Ogi sass bereits ein Berner im Bundesrat.
Mit der Totalrevision der Bundesverfassung 1999 wurde die Klausel ganz aufgehoben. Sie galt als Hindernis bei der Suche nach den fähigsten Leuten für den Bundesrat. Niemand rechnete damit, dass es schon bald zu Zweiervertretungen aus grossen Kantonen kommen würde. 2003 wurde Christoph Blocher als zweiter Zürcher neben Moritz Leuenberger gewählt, 2008 folgte Ueli Maurer. Und nun könnte es sogar zum doppelten Doppel von Bernern und Waadtländern kommen.
Der Freiburger Bundesrats-Historiker Urs Altermatt bezeichnete die Streichung der Kantonsklausel im «Tages-Anzeiger» als Fehler: «Es war zu befürchten, dass es zu einer Machtkonzentration bei den grossen Kantonen kommt. Dass es aber so rasch geht mit den Doppelvertretungen Zürichs, Berns und nun möglicherweise der Waadt, das hätte ich nicht erwartet.»
Der St.Galler Staatsrechtler Bernhard Ehrenzeller lehnt eine neue Kantonsklausel ab. Er räumte jedoch ein, dass ihre Streichung «einen gewissen Dammbruch» ausgelöst habe: «Man vertraute darauf, dass die Weisheit des Parlaments eine übermässige Konzentration verhindert.» Mit dieser Weisheit scheint es nicht weit her zu sein, wie die jüngere Geschichte zeigt.
Bei den Bernern immerhin könnte sich das Problem mit dem Rücktritt von Schneider-Ammann in absehbarer Zeit lösen. Als Favoriten für seine Nachfolge gelten Persönlichkeiten aus der Ostschweiz, die sich ebenfalls gerne vernachlässigt fühlt, etwa Karin Keller-Sutter oder Andrea Caroni. Der Ausserrhoder hat übrigens von seinem Grossvater das Tessiner Bürgerrecht geerbt. Heute wäre das aber selbst mit einer Kantonsklausel kein Kriterium mehr.